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STUTTGART/ Schauspiel Nord: „DER UNTERGANG DER TITANIC“ von Hans Magnus Enzensberger

20.10.2021 | Theater

STUTTGART/ Schauspiel Nord: „Der Untergang der Titanic“ von Hans Magnus Enzensberger am 19.10.2021 

Betrachtung des Fiaskos

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Foto: Björn Klein

Das Stück von Hans Magnus Enzensberger reflektiert das Geschehen vom Untergang der Titanic am 14. April 1912 auf eigentümliche Weise. An diesem Tag zerschneidet ein Eisberg den Rumpf der RMS Titanic und bringt in der Folge das größte Schiff der Welt zum Sinken. Von den 2201 Menschen an Bord können allerdings nur 711 gerettet werden, der Rest erfriert im eiskalten Wasser. In dreiunddreißig Gesängen umkreist Hans Magnus Enzensberger den Untergang der Titanic. Der Fortschrittsglauben wird so zu Grabe getragen. High Society, Mittelstand und Proletariat werden gleichermaßen vernichtet. Enzensbergers poetischer Text gewinnt an aktueller Brisanz. Unter dem Eindruck von Wirtschaftskrise, Linksterrorismus, Anti-Atomkraft- und Friedensbewegung gerät auch die aktuelle Diskussion um den Klimawandel in ein grelles Blickfeld. Zumal Enzensberger von Anfang an den Nimbus des „zornigen jungen Mannes“ hatte. Das Stück stellt den politischen Lyriker und scharfsinnigen essayistischen Polemiker Enzensberger grell heraus.

In einer Koproduktion mit der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart inszeniert Nick Hartnagel (Bühne und Kostüme: Tine Becker) dieses Stück auch mit versteckter Ironie. Denn die Schauspielstudenten tragen bonbonfarbene Anzüge, Tüllkleider, Ratten- und Eisbergkostüme. Alles ist dem Untergang geweiht: „Der Eisberg kommt auf uns zu!“ Man hört den Aufprall des Schiffes und die Augenblicke, als das Eis die gesamte Konstruktion aufschlitzt. Das wirkt wie ein makaberes Live-Hörspiel. Dieses Schiff ist als gläsernes Rondell erkennbar, das sich in geheimnisvoller Weise nach oben ausdehnt. Das erinnert an den Untergang der Titanic, die zuletzt senkrecht im Wasser versank. Die Klassenunterschiede werden auch hier in dramatischer Weise betont. Wer arm ist, stirbt schneller. Die erste Klasse bekommt ihren Platz auf dem Rettungsboot, während die dritte Klasse verloren ist, sobald das Wasser in die Heizräume strömt. Aber auch die Fortschrittshybris wird in der Inszenierung auf satirische Weise karikiert. Es ist ein tragisches menschliches Scheitern im Zusammenhang mit der Klimakrise. Allerdings nimmt der Zuschauer im Stück den Untergang der Titanic in sehr unterschiedlicher Weise wahr. Enzensberger fragt hier, ob der Anfang vom Ende immer so diskret sei. Man spürt zudem, wie raffiniert dieser Text mit verschiedenen Ebenen spielt, die miteinander verwoben sind.

Dies machen auch die Darsteller Wiktor Grduszak, Cora Kneisz, Natalja Maas, Jonas Matthes, Liliana Merker, Felicien Moisset und Jakob Spiegler gut deutlich. Die Panikattacken der Schiffbrüchigen steigern sich zuletzt zu wilden Schreien. Die unterschiedlichen Schicksale auf der Titanic werden facettenreich beleuchtet. Es beginnt mit der Eisberg-Kollision und endet mit den Rettungsbooten und der Rettung der Überlebenden. Natürlich erkennt man auch an diesem Text, wie stark Enzensberger an der Dialektik von Hegel und Marx geschult ist. Es folgt eine parodistische Demaskierung der Protagonisten, die sich allesamt irgendwie im Weg stehen. Pathos wird dabei mit scharfen Angriffen entlarvt. Das will Nick Hartnagel in seiner Inszenierung gar nicht verleugnen. „Raubt, was man euch geraubt hat!“ lautet letztlich die Devise. Die Figuren beginnen den Verstand zu verlieren. Es ist jedoch gerade das Tragische, Unabänderliche, das Nick Hartnagel bei seiner Inszenierung auch noch deutlicher herausarbeiten könnte. Die luxuriöse Präsentation des Palmensaals und des Türkischen Bades endet im Chaos: „Dieses Schauspiel hebt die Einbildungskraft. Der Eisberg ist nichts wert…“ Und es kommt zu alptraumhaften Szenen: „Was ist los? Lasst uns raus! Stop. Wir ersticken hier. Wie ist das nur möglich?!“ Und zur letzten Stunde hebt der Kapellmeister den Stock. Der Schiffsrumpf hebt sich in gespenstischer Weise. Zwischen Lenin-Zitaten vernimmt man die verzweifelten Schreie der Schiffbrüchigen. Man tanzt am Schluss wie in Trance zu Kuba-Rhythmen. Enzensberger blickt hier kritisch auf seinen Einsatz für den Kommunismus in Kuba zurück. Natürlich ist es ein Todestanz. Die artistische Qualität dieser Verse steht im Vordergrund. Doch zuletzt wird sogar suggeriert, dass in Wirklichkeit nichts geschehen sei: „Der Untergang hat nicht stattgefunden. Das Schlimmste liegt hinter uns„. Die Musik von Lukas Lonski erinnert an die Melodien, die damals auf der Titanic erklangen.

Alexander Walther

 

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