„Das glaubst du ja wohl selber nicht!“ von Schorsch Kamerun im Schauspiel Nord
VOM AUTO ÜBERFAHREN
„Das Übertriebene“ von Schorsch Kamerun im Schauspiel am 3. Juni 2016/STUTTGART
Copyright: Julian Marbach
Im Rahmen der musiktheatralischen Performance-Reihe „Das glaubst du ja wohl selber nicht!“ zeigte Schorsch Kamerun auch „Das Übertriebene“. Es ist dem 1940 in Vechta geborenen Autor Rolf Dieter Brinkmann gewidmet, der 1975 in Cambridge von einem Auto überfahren wurde und durch sein provokantes Auftreten gefürchtet war. Brinkmann interessierte sich vor allem für die Fotografie, deswegen durfte man an diesem Abend auch Bilder knipsen. Ein Imker wurde vom Freien Radio für Stuttgart interviewt, danach spielten drei belgische Bands. „Schwuler Mercedes, schwuler Mercedes, du kennst die besten Locations“ lautete der Refrain eines ironischen Songs. Manuel Harder las virtuos Texte von Rolf Dieter Brinkmann: „Die Sprache der Steine und wir haben keine…“ Auf dem Podium hatte das „Literarische Quartett“ unter anderem mit Walter Jens, Marcel Reich-Ranicki und Klara Obermüller Platz genommen, um einen Autor öffentlich abzuurteilen, der dann kleinlaut resignierte.
Copyright: Julian Marbach
Onanierende Autoren wurden aufs Korn genommen. Leider parodierte man die Stimmen hier nicht. Dafür sang eine Sängerin zuletzt aber wunderschöne Liederarien von Richard Strauss. Bei dieser musiktheatralischen Versuchsreihe soll die Frage gestellt werden, ob sich heute überhaupt noch an etwas glauben lässt. Zehn unterschiedliche Abende beleuchten zehn unterschiedliche Felder wie „das Expressive“ oder „das Unfassbare“. Es gibt Show, Lesung, Konzert, Kunst- und Videoinstallation, Debatte, Tanz und immer wieder Party. Die Protest- und Reformbewegungen der vergangenen Jahrzehnte geben gewaltig den Ton an. Das Herausgreifen einzelner Momente aus dem zeitlichen Fluss steht hier im Mittelpunkt. Der Abend beschäftigte sich auch mit „Acid“ von Brinkmann – einer suggestiven Arbeit, wo dieser schwierige Autor sich mit Burroughs Text „Die unsichtbare Generation“ beschäftigt. Darin wird dann erläutert, wie mit Audiotonbandaufnahmen Zeitläufe von Linearität entkoppelt und vervierfacht werden können. Verborgene Zusammenhänge werden dabei in geheimnisvoller Weise durchsucht und durchleuchtet. Natürlich darf dabei der Mann auf dem Mond nicht fehlen. Hier wurden dann tatsächlich nostalgische Erinnerungen ans legendäre Jahr 1969 mit der ersten Mondlandung wach. Man wollte gesehen und gehört werden. Der Mut zum Experimentellen, zum Neuen, Abwegigen und Untergründigen wurde dabei ausgereizt. Das revolutionäre Aufbegehren stand im Mittelpunkt. Jugendbewegungen, Subkulturen, reformfrohe Glaubensgemeinschaften und die unangepasstesten Erfindungen bestürmten dabei das fassungslose Publikum, das selbst zum Mitwirkenden dieser surrealistischen Performance mutierte. Familienautos und Städtereisen gehörten hierbei ebenfalls zum revolutionären und „spannend anderen“ Inventar. Kleider aus dem Jahre 1900 weckten historische Erinnerungen. Klar machte dieser Abend auch, dass es Ende der 60er-Jahre offensichtlich üblich war, für eine junge Generation radikal auszusteigen und zu rebellieren. Die Haltung „gegen das Establishment“ galt als modern und gleichsam en vogue. So äusserten sich jedenfalls die Schauspielerinnen und Schauspieler Julian Marbach, Abak Safei-Rad oder Julia Schaefer. Die Übergänge vom Darsteller und Zuschauer waren bei dieser besonderen Performance fließend. Der Cut-up-Schnitt zeigte sich als der unsichtbare Schnitt, der eine organische Ganzheit unterstützt. Kunstpolitische und ästhetische Fragen wurden so ganz neu und umso radikaler und kompromissloser gestellt.
Und vor allem: Das Ganze war kurzweilig und machte auch noch Spaß!
Alexander Walther