„Die Ermittlung“ von Peter Weiss mit dem Schauspiel Stuttgart am 30. September 2025 im Landtag von Baden-Württemberg/STUTTGART
Das Grauen ist lebendig
Im Zeugenstand: Katharina Hauter, dahinter Ensemble. Foto: Ingrid Hertfelder
Zum ersten Mal wurde „Die Ermittlung“ von Peter Weiss im Landtag von Baden-Württemberg gezeigt. Einer Anregung des Altphilologen und Literaturhistorikers Walter Jens zufolge war dieses wichtige Stück aus dem Jahre 1965 mehrfach Gegenstand szenischer Lesungen in deutschen Landesparlamenten. Dem trägt der Regisseur Burkhard C. Kosminski jetzt Rechnung – allerdings mit einer richtigen Inszenierung, die beim Publikum einen tiefen Eindruck hinterließ. Zwischen Dezember 1963 und August 1965 fand in Frankfurt am Main der erste Auschwitz-Prozess statt, in dem die Täter vor Gericht standen. Peter Weiss (der auch Augenzeuge war) hat in diesem dokumentarischen Theaterstück diesen Prozess dargestellt und zu einem „Oratorium“ umgearbeitet. Allerdings legt Kosminski mehr auf szenische Dichte und grelle Realität Wert. In elf Gesängen treten Zeugen, Angeklagte, Richter und Verteidiger auf. Das Grauen der Tötungsfabrik Auschwitz nimmt so eine erbarmungslose Direktheit an, der das Publikum nicht entfliehen kann: „Ich kam aus dem Lager heraus, aber das Lager besteht weiter.“ Weiss vertrat die Auffassung, dass diesen unfassbaren Ereignissen mit Worten eigentlich nicht beizukommen sei und schuf eine Verbindung zu Dante Alighieris „Inferno“.
Christiane Roßbach, Gabriele Hintermaier, Sven Prietz. Foto: Ingrid Hertfelder
Ohne das Engagement des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer hätte dieser Jahrhundert-Prozess wohl nicht stattgefunden. 22 Angeklagte wurden damals vor Gericht gestellt – unter ihnen der Adjutant des Lagerkommandanten Robert Mulka. Während des Prozesses wurden 359 Zeugen gehört, von denen 248 Überlebende des Lagers waren. Peter Weiss wollte das Erlebte dieses Prozesses künstlerisch umwandeln. Anders als im historischen Auschwitzprozess stehen hier nur 18 Angeklagte vor Gericht. Die Aussagen von mehreren hundert Zeugen fasst Weiss in den fiktiven Zeugenfiguren 1-9 zusammen. Im Landtag von Baden-Württemberg gehen die einzelnen Szenen Gesang von der Rampe, Gesang von der Aufnahme, Gesang von der Schaukel, Gesang von der Möglichkeit des Überlebens, Gesang vom Ende der Lilly Tofler, Gesang vom Unterscharführer Stark, Gesang von der schwarzen Wand, Gesang vom Fenol, Gesang vom Bunkerblock, Gesang vom Zyklon B und Gesang von den Feueröfen nahtlos ineinander über. Die Teile folgen so auch in der packenden Aufführung im Landtag dem Weg der Opfer von der Rampe bei der Ankunft in Auschwitz bis zum Feuerofen. Die grausamen Schilderungen der Einzelheiten dieser Massenvernichtung sind manchmal kaum erträglich, berühren die Schmerzgrenze. Da die Schauspieler allesamt auf der Regierungsbank sitzen, gerät hier eine ungewöhnliche Perspektive in den Mittelpunkt. Denn das Publikum hat auf den Sitzen der Abgeordneten Platz genommen. Vorhölle, Hölle und Nachhölle des Faschismus werden durch die ausgezeichneten Darsteller Gabor Biedermann, Boris Burgstaller, Therese Dörr, Rainer Galke, Katharina Hauter, Josephine Köhler, Sylvana Krappatsch, Matthias Leja, Simon Löcker, Sven Prietz, Klaus Rodewald, Celina Rongen, Christiane Roßbach, Anke Schubert, Michael Stiller, Felix Strobel und Gabriele Hintermaier als stoische Richterin mehr als lebendig. Ja, hier spielt eigentlich die Politik in geheimnisvoller Weise mit! Mit den Kostümen von Ute Lindenberg und der Musik von Hans Platzgumer kommt Burkhard C. Kosminski der Intention von Peter Weiss sehr nahe, die Widersprüche zwischen den Aussagen der Täter und der Opfer (die den ganzen Text durchlaufen) schonungslos aufzudecken. Das offene Ende des Stückes geht unter die Haut: Weiss wollte die gesellschaftliche Verantwortung des Individuums in der Diktatur mit gnadenloser Präzision darstellen. So verlassen die Darsteller zum Schluss ganz abrupt den Plenar-Saal des Landtags von Baden-Württemberg, der ansonsten immer wieder Gegenstand hitziger Debatten ist. Die Bereitschaft zur Beihilfe zum Massenmord verknüpft Peter Weiss geschickt mit ökonomischen Zusammenhängen und Verbindungen. So erläutert der früher politisch tätige Zeuge 3 im „Gesang von den Feueröfen III“, dass der Massenmord ohne die Unterstützung von „tausend Amtsstellen“ und „Millionen anderer“ nicht hätte funktionieren können. Zeuge 3 spricht bereits vorher im „Gesang von der Möglichkeit des Überlebens II“ von den zugewiesenen „Rollen der Bewacher“ und der Häftlinge, die auch „einen Bewacher abgeben können“. So heißt es lakonisch: „Wir kannten alle die Gesellschaft, aus der das Regime hervorgegangen war, das solche Lager erzeugen konnte. Die Ordnung, die hier galt, war uns in ihrer Anlage vertraut, deshalb konnten wir uns auch zurechtfinden in ihrer letzten Konsequenz, in der der Ausbeutende in bisher unbekanntem Grad seine Herrschaft entwickeln durfte und der Ausgebeutete noch sein Knochenmehl liefern musste.“ Es ist Burkhard C. Kosminski bei dieser Inszenierung in eindrucksvoller Weise gelungen, die dramaturgische Steigerung subtil herauszuarbeiten und das unbeschreibliche Grauen auf den Punkt zu bringen. So sind Figuren wie die „blutige Brygida“, die ihren Schäferhund auf eine Schwangere hetzte und auch in Auschwitz Aufseherin war, mehr als lebendig. Weiss wollte, dass sich das Bühnenbild auf einen nüchternen Gerichtssaal beschränkt, was auch im Landtag der Fall ist. Das Stück ist in Stuttgart ja noch im Landgericht zu sehen. Der Text besteht aus einem überschaubaren Satzbau, der keinerlei Interpunktion aufweist. Der Charakter eines reimlosen Epos tritt deutlich hervor. Das Geschehen wird sachlich und ohne Emotion erzählt. Nur hier und da werden die Angeklagten und die Opfer von ihren Gefühlen überwältigt. Weiss wollte keine realistische Darstellung, nur eine Reduktion auf die Fakten. In Kosminskis Inszenierung kommt jedoch gerade die realistische Darstellung aufgrund der Landtags-Atmosphäre nicht zu kurz. Verfremdungseffekte fesseln den Zuschauer. Die Rhythmisierung der Sprache spielt virtuos mit den Aussagen der Figuren. Gleichzeitig stellte Weiss in diesem Stück kritische Bezüge zur Gegenwart in Westdeutschland her. Bei Erwin Piscators Westberliner Inszenierung aus dem Jahre 1965 stellte die Zeugenbank eine Verlängerung des Zuschauerraums dar. Piscator ließ die Zuschauer aus der Perspektive der Opfer auf das Prozessgeschehen blicken. Peter Palitzsch verfolgte in der Stuttgarter Produktion mit stetigen Rollenwechseln aller Schauspieler im Gegensatz hierzu eine anti-identifikatorische Konzeption. Burkhard C. Kosminski verbindet diese beiden Ansatzweisen jetzt zu einer neuen Version, die die politische Dimension in den Mittelpunkt rückt. In seinem Grußwort im Foyer unterstrich er das „Nie wieder!“ mahnend und eindringlich zugleich. Und auch die Landtagspräsidentin Muhterem Aras betonte in ihrer Begrüßung die Einzigartigkeit dieser besonderen Aufführung.
Alexander Walther