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STUTTGART/ Schausspielhaus: NACHTSTÜCKE – Die dunkle Zeitspanne als Energiequelle. Premiere

25.03.2017 | Ballett/Performance

Stuttgarter Ballett: „NACHTSTÜCKE“ 24.3. 2017 (Premiere im Schauspielhaus) – Die dunkle Zeitspanne als Energiequelle

Nach dem Verführungs-Programm im Februar förderte dieser aus einer Wiederaufnahme, einer Ur- und einer Stuttgarter Erstaufführung zusammengesetzte Abend erneute Überraschungen – im wahrsten Sinne des Wortes – zutage, denn das Motto gilt der Dunkelheit und ihren ungeahnten Errungenschaften. So manch lebensfrohere und heller gestimmte Choreographie in der Vergangenheit löste nicht so große Begeisterung aus wie diese drei Beiträge.

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Nachtblaue Geheimnisse: Rocio Aleman und Pablo von Sternenfels in „Ssss…“ Copyright: Stuttgarter Ballett

Gemäß dem Titel „SSSS…“ und der ausgewählten Musik von Frederic Chopin blieb die Reaktion noch etwas gedämpfter, auch wenn der Rumäne Edward Clug die komplexeste Tanzsprache des Abends aufweist und der Nacht eine größere, ja passend geheimnisvollere Note abgewinnt als die beiden anderen Werke. Die bereits zweite Neueinstudierung des 2012 für das Stuttgarter Ballett geschaffenen Stücks, für die er selbst zur Verfügung stand, machte noch vermehrt den Komponentenreichtum seiner Arbeit deutlich. Dieser setzt sich aus dem spannenden Verhältnis von Choreographie, Bühnengestaltung und Musik zusammen, die sich ständig verändernd mal zu einer Einheit fügen, mal konterkarierend zueinander verhalten. Die nachtblau ausgeleuchtete Bühne mit eine magische Wasseroberfläche suggerierenden Lichtreflexen, in deren dunklem Hintergrund sich einige Reihen aufgestellter Klavierhocker mehr und mehr verlieren, während einer davon mit dem Rücken zum Publikum von der Pianistin Alina Godunov besetzt ist, wird zum Treffpunkt für sechs dunkelblau gewandete TänzerInnen (Bühne und Kostüme: Thomas Mika), die jeweils für die Dauer von fünf ausgewählten „Nocturnes“ Chopins meist in Zweier- oder Dreierkombinationen zusammenfinden und an den Enden wieder auseinander gehen. Die energievolle, wie von innen heraus leuchtende Hyo-Jung Kang, die wie immer leicht, lässig und doch hoch konzentriert bleibende Elisa Badenes, die mehr und mehr in solistische Standards aufsteigende, ihre langen Beine fein ausbalancierende Rocio Aleman, der gleich am Beginn ein packend dynamisches Solo hinlegende Pablo von Sternenfels, der so leichtfüßig und bestechend klar konturiert wie exakt tanzende Adam Russell-Jones und der zuverlässig ausgeglichene David Moore verschlingen sich in phantasievoll mit klassischen Grundlagen spielenden Varianten von Zuneigung und Abstoßung, von wechselnd lustvollem Reiz und leicht grobem Einschlag. Während die Beine mehr die pure Bewegung ausloten, fungieren die vielseitig mit Formen experimentierenden Arme als Ausdrucksträger innerer Stimmungen. Die Kühle der Nacht spiegelt sich darin wie die romantische Atmosphäre der Musik im Bühnenraum. Spannung ist garantiert.

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Nächtliche Energiequelle: Hyo-Jung Kang und Robert Robinson in „Qi“. Copyright: Stuttgarter Ballett

Der Halbsolist Louis Stiens war bisher vor allem durch eine fast beängstigend düstere Grundhaltung sowie betonten Intellekt aufweisende Arbeiten aufgefallen. Somit passt er perfekt in ein der Nacht gewidmetes Programm und ließ ein entsprechend finsteres Produkt erwarten. Doch bereits der gewählte, aus dem Chinesischen stammende Titel „QI“ (ausgesprochen: Tschi), der eine sehr weitreichende Bedeutung von Energie oder Atmosphäre und Zustand hat, weist daraufhin, dass sich in den nächtlichen Vorstellungen des Choreographen allerhand abspielt, in der Ruhe der Umgebung ungeahnte Energien frei gesetzt werden und den Menschen auf andere Art aktiv werden lassen. Stiens Ziel einer kontinuierlich starken und auf die Zuschauer überspringenden Stromspannung der Tänzer ist dabei voll aufgegangen, mit so viel Tatendrang werfen sie sich in die viele Stilelemente aufgreifende und neu zusammensetzende Tanzsprache. Da finden sich bis zur skurrilen Versteifung gespreizte Hände, auf- und abknickende Beine, schräge Körperlagen oder ein rückwärts gewandtes Zurückhuschen in die seitliche Unsichtbarkeit. Besonders prägnant geraten jedoch die regelrecht sprechend eingesetzten, oft unruhig ausfahrenden, sich zu Gesten formenden Arme. Hinreichend unterstützt werden sie dabei von drei, hauptsächlich rhythmisch attackiert bewegten, aber auch mal gefühlsbetonten Kompositionen des Barockmusikers Johann Heinrich Schmelzer, der dem Ganzen einen teilweise feierlichen Charakter gibt. Dass es dabei nicht bleiben würde, ja nicht kann, war klar, und so lässt Stiens die nächtliche Energiefreisetzung in eine dröhnende, chaotisch zerrissene elektrotechnische Klangkulisse von Evian Christ regelrecht umkippen. Und das ist die große Stunde des leider zum Ende der Spielzeit zumindest vorübergehend ausscheidenden Robert Robinson, seine so enorm gewachsene körperliche Aussagekraft in einer alptraumhaft ausgelebten Sequenz in den leeren, meist nur in einen großen Lichtkreis gebannten Bühnenraum mit wechselnden wie hinter einem Zerrspiegel verwischten gedeckten Farb-Hintergrund-Wänden (Christine Nasz) zu bannen. Es fällt schwer eine/n der Weiteren im achtköpfigen Ensemble hervorzuheben, sowohl die wiederum eingesetzten Ersten Solistinnen Elisa Badenes und Hyo-Jung Kang als auch Agnes Su und die Jungs Adam Russell-Jones, Matteo Miccini, Alessandro Giaquinto und Timoor Afshar werfen sich, allesamt in Schwarz und teilweise oberkörperfrei mit Vehemenz und unablässiger Power in diese über alle Maßen überraschend gelungen griffige und animierende Choreographie, mit der Louis Stiens mit den Tänzern einen verdient enthusiastischen Erfolg feiern darf.

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Gruppen-Disziplin: das Ensemble in „Falling Angels“. Copyright: Stuttgarter Ballett

Gemessen an vielen seiner bekannten Schöpfungen fallen die passend zum 70. Geburtstag von Jiri Kylian erstmals in Stuttgart gezeigten, das zweite seiner Schwarz-Weiß-Ballette markierenden „FALLING ANGELS“ verhältnismäßig minimalistisch, reduziert in seinem sonst größer ausfallenden Bewegungsradius aus. Und dennoch ist es in seiner wechselnd synchronen wie individuellen Konsequenz eine passende Hommage an die abendlich, meist wenn es draußen dunkel ist, auf der Bühne zum Leben erweckten Tänzerinnen. Durch einheitlich schwarze Trikots und eine nur von geometrisch wandelbaren Lichtflächen und heraus geschälten Mustern bestimmte leere Bühne ist die Aufmerksamkeit ganz auf die Disziplin der Akteurinnen gerichtet, die in einzelnen Soli und Duos immer wieder aus der Gruppenverhaftung ausbrechen und nach Unabhängigkeit streben. Deren innere Kämpfe werden dabei sowohl vom Licht als auch durch ihre freizügigeren Bewegungen sichtbar gemacht. Solistisch angeführt von Ami Morita und Jessica Fyfe folgen Fernanda De Souza Lopes, Aurora De Mori, Elisa Ghisalberti, Daiana Ruiz, Anouk van der Weijde und Veronika Verterich der alles gnadenlos bestimmenden live entfesselten Drumming-Percussion von Steve Reich mit unerbittlich konsequenter und einheitlicher Hingabe (Einstudierung: Roslyn Anderson). Diesem alles einhüllenden Trommel-Stakkato als Stimmungsträger dürfte wohl der chorartige Publikumsaufschrei am Ende entsprungen sein, ansonsten wäre der nach dem so begeistert aufgenommenen zweiten Stück unerwartet lang anhaltend euphorische Applaus trotz verdienter Tänzerleistungen nicht so ganz nachzuvollziehen gewesen.

Ein starker Abend, der die Nacht im intimeren Ambiente des Schauspielhauses schillernd reich beleuchtet!

                                                                                                                      Udo Klebes

 

 

 

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