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STUTTGART: REIGEN – von Philippe Boesmans vertonter Schnitzler-Klassiker

11.05.2016 | Oper

Schnitzler-Klassiker als Oper in Stuttgart: „Reigen“ von Philippe Boesmans (Vorstellung: 10. 5. 2016)

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Der junge Herr (Sebastian Kohlhepp) im Kampf mit den Bettrollen und der jungen Frau (Rebecca von Lipinski) © A.T. Schaefer

 

Anlässlich des 80. Geburtstags des belgischen Komponisten Philippe Boesmans zeigt das Opernhaus Stuttgart dessen vor mehr als zwanzig Jahren entstandene Oper „Reigen“ (Libretto: Luc Bondy nach Arthur Schnitzler), deren Uraufführung 1993 als Auftragswerk in Brüssel stattfand. In Wien kam die Oper im November 1997 zur Aufführung.

Das von Arthur Schnitzler im Jahr 1897 verfasste Theaterstück wurde aufgrund von Unruhen erst 23 Jahre später in Berlin uraufgeführt und führte zu einem Theaterskandal und sogar zu einem Prozess. Von den pseudomoralischen und bigotten Attacken auf seine Person angewidert, ordnete Schnitzler an, dass sein Stück erst fünfzig Jahre nach seinem Tod wieder auf der Bühne gespielt werden dürfe. Was damals zu einem Skandal führte, regt heutzutage allerdings niemanden mehr auf. Die Erfüllung sexueller Begierden des Menschen darf wohl als zeitlos angesehen werden…

Regisseurin Nicola Hümpel gelang es, den Reigen der zehn erotischen Treffen – beginnend mit der Dirne und dem Soldaten und endend wieder mit der Dirne – witzig und ästhetisch auf die Bühne zu bringen, wobei Videosequenzen (Video: Judith Konnerth / Nicola Hümpel) eine illustrative Ergänzung bildeten. Eine reizvolle Idee, die dennoch zwiespältig war. Die Videobilder täuschten des Öfteren eine Innigkeit der Paare vor, die jedoch in Wirklichkeit weit voneinander entfernt oder sogar in größerem Abstand einander gegenüber saßen. Auch die Hinzufügung von Figuren war kontraproduktiv, denn sie störten eindeutig den Reigen.

Die anfangs vollkommen leere Bühne wurde von Szene zu Szene mit Requisiten (Bett, Couch, Tisch mit Stühlen etc. und in der letzten Szene ein überdimensionales Buch, auf dem der Graf schlief) angereichert, wodurch sich immer wieder ein neues Bühnenbild ergab (Bühnengestaltung: Oliver Proske). Die Kostüme der Jetztzeit entwarf Teresa Vergho, für die Lichteffekte sorgte Jörg Bittner.

Das zehnköpfige Sängerensemble der Oper Stuttgart, das sich vor der ersten Szene auf der Bühne versammelte, brillierte nicht nur stimmlich, sondern auch darstellerisch. Die litauische Sopranistin Lauryna Bendžiūnaitė stellte eine attraktive Dirne namens Leocadia auf die Bühne, die sich in der ersten Szene dem Soldaten unentgeltlich anbietet und bei der in der zehnten und letzten Szene der Graf schläft, der ihr zuraunt: „Meiner Seele, es ist schade, dass du nichts anderes bist.“  

Der in Argentinien geborene Tenor Daniel Kluge spielte den Soldaten, der nach der Dirne mit einem Stubenmädchen Sex hat, sehr burschikos und lässt sie auf der Straße stehen. Das Stubenmädchen, von der jungen Altistin Stine Marie Fischer sehr kokett gespielt und blendend gesungen, tröstet sich mit dem jungen Herrn, dessen Eltern ausgegangen sind. Nach dem Sex hat er – gut gespielt und gesungen vom Tenor Sebastian Kohlhepp – es eilig, zu seiner Verabredung mit der jungen Emma zu kommen, die im Hotel allerdings nur fünf Minuten bleiben will. Sein Versagen im Bett überspielt er mit köstlichem Humor, indem er Zitate aus Stendhals Buch vorträgt.

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Die junge Frau (Rebecca von Lipinski) mit ihrem Gatten (Shigeo Ishino) © A.T. Schaefer

Die britische Sopranistin Rebecca von Lipinski als junge Emma liest in der nächsten Szene im Ehebett Stendhal, als ihr Gatte Gottfried – dargestellt vom japanischen Bariton Shigeo Ishino – heimkommt und seine Theorie zum Erhalt der Liebe in der Ehe darlegt. Nach dem Sex schwelgen beide in der Erinnerung an ihre Hochzeitsreise nach Venedig. In der folgenden Szene trifft sich der Gatte mit dem süßen Mädel, das von der kroatischen Mezzosopranistin Kora Pavelić mit köstlicher Komik ausgestattet wurde. Sie fühlt sich von Gottfried an ihren früheren Geliebten erinnert, er wiederum durch sie an seine Jugend. Sie beschließen, einander wiederzusehen.

Das unbedarfte süße Mädel trifft danach den Dichter Robert, der begeistert ist, eine „dumme“ Person vor sich zu haben und nach dem Sex erklärt, mit ihr ein paar Wochen in der Einsamkeit draußen im Wald verbringen zu wollen. Anschließend verreist der Dichter, vom deutschen Tenor Matthias Klink eindrucksvoll dargestellt, mit einer Sängerin. Auf launisch-ironische, aber auch bösartige Art betonen beide, eigentlich kein Interesse aneinander zu haben. Auch nach dem Sex begegnen sie einander unverändert.

Die deutsche Sopranistin Melanie Diener spielte die Rolle der Sänger wie eine Primadonna, was sich auch in der folgenden Szene zeigt, in der sie der Graf besucht. Während sie mit dem Dichter telefoniert, erklärt ihr der Graf – vom Bariton André Morsch gespielt – umständlich, morgens nicht zum Sex aufgelegt zu sein. Nach dem Sex machen beide widersprüchliche Angaben über eine mögliche nächste Verabredung.

Als der Graf bei der Dirne Leocadia erwacht, kann er sich an die vergangene Nacht nur bruchstückhaft erinnern. Sie berichtet, dass er erst „nachher“ mit ihr gemeinsam eingeschlafen sei. Der Graf verabschiedet sich. – Das Leben geht weiter.

Das Staatsorchester Stuttgart brachte unter der Leitung von Sylvain Cambreling die nuancenreiche Partitur des Komponisten, die oft kammerspielartigen Charakter aufweist, aber häufig auf witzige Art – hin und wieder sogar mit musikalischen Zitaten, wie Bachs „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ – die Handlung illustriert, in allen Facetten zum Erklingen.

Das Publikum im überraschenderweise nicht ausverkauften Haus unterhielt sich prächtig und belohnte alle Mitwirkenden mit lang anhaltendem Beifall.

Udo Pacolt

PS: Weitere Vorstellungen der Boesmans-Oper „Reigen“ finden am 13. und 20. Mai sowie am 3. Juni in Stuttgart statt.

 

 

 

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