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STUTTGART/ Opernhaus: „HÖHEPUNKTE“ – Der Tanz als Medium des Zusammenhanges von Leben und Tod

09.07.2021 | Ballett/Performance

Stuttgarter Ballett

„HÖHEPUNKTE“ 8.7.2021 – Der Tanz als Medium des Zusammenhanges von Leben und Tod

Ein Programm, das letzte Saison dem Lockdown zum Opfer fiel und am Ersatztermin im vergangenen November zwar als Live stream, aber ohne Publikum zu sehen war, schaffte es jetzt zum Ende der Jubiläumsspielzeit des Stuttgarter Balletts (60 Jahre) doch noch vor das im Rahmen eines Modellprojektes zur Hälfte belegbare Opernhaus. Doch selbst jetzt kam es aufgrund eines in Folge eines schweren Gewittersturms mit Wasserschäden belasteten Hauses zu einer Verlegung der Premiere um weitere drei Tage.

In dieser zweiten Vorstellung trat die Alternativ-Besetzung an, weshalb auf diejenige der Premiere erst zu einem späteren Zeitpunkt eingegangen werden kann.

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Spannung zwischen Licht und viel synchronem Bewegungsmodus: das Ensemble in „Falling Angels“. Foto: Stuttgarter Ballett

Jiri Kylians 1989 beim Nederlands Dans Theater uraufgeführte „FALLING ANGELS“ waren hier erstmals 2017 zu sehen. Ob es am langen Vermissen von Live-Darbietungen oder an dem neu gemischten Frauenensemble lag, ist schwer zu sagen. Jedenfalls kam das zu den Schwarz-/Weiß-Stücken des renommierten tschechischen Choreographen zählende Opus mit vier Percussion-Solisten als antreibender, Impulse setzender Kraft jetzt mit mehr fesselnder Unmittelbarkeit und Direktheit über die Bühne. Gruppenzwang oder Unabhängigkeit – jede der 8 Tänzerinnen versucht in einem Solo aus dem vorgegebenen Rhythmus auszubrechen, statt einheitlicher Bewegungsmuster einen eigenen Ausdrucks-Weg zu finden. Da werden Lichtquadrate zu schmalen Rechtecken oder ganz knappen Linien. Die Beleuchtungswechsel setzen Spannungsfelder zwischen den Sog der Trommeln und der immer wieder unterbrochenen choreographischen Synchronität. Vor allem mit Fernanda Lopes und Mackenzie Brown sind zwei Positionen auffallend charismatisch neu besetzt, aber auch Coralie Grand und Minji Nam fügen sich tadellos in das übrige, bereits rollenerfahrene Ensemble ihrer Kolleginnen.

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Elisa Ghisalberti und Timoor Afshar in „Petite mort“. Foto: Stuttgarter Ballett

Ohne Szenen-und Applaus-Unterbrechung schließt sich Kylians hier nun erstmals auf die Bühne kommendes „PETITE MORT“ an, mit dem in Frankreich umgangssprachlich der Orgasmus bezeichnet wird. Als Auftragswerk der Salzburger Festspiele in Mozarts 200. Todesjahr und deshalb zu Musik von ihm kreiert, hat es inzwischen einen festen Platz im Ballettrepertoire gefunden. Die eher leise, aber doch eindrücklich präsente Erotik, die sich zwischen 6 Paaren entfaltet, erhält durch die beiden langsamen Mittelsätze der Klavierkonzerte KV 488 und KV 467 ein Bett gesättigt in Harmonie und tiefer menschlicher Empfindungskraft (Solist: Andrej Jussow und das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Wolfgang Heinz). Degen dienen als Objekte der Macht, aber auch des partnerschaftlichen Spiels, sie werden geschwungen, gerollt, auf den Füßen balanciert, gebogen und in allerlei Positionen zwischen den Paaren symbolisch eingesetzt. Weitere Requisiten sind ein wallendes Tuch, das die Frauen zunächst verhüllt und dann auch wieder verschwinden lässt sowie fahrbare schwarze Rokokokleider-Gestelle, hinter die sich die Frauen mit ihnen spielend stellen, und die am Ende als Relikt von körperlicher Enge zurück bleiben. In den überaus anspruchsvollen Kombinationen, zunächst unisono, dann nacheinander in Duos, behaupten sich alle Rollendebutanten mit Balance und partnerschaftlichem Geschick: Miriam Kaceroca + Roman Novitzky, Hyo-Jung Kang + Ciro Ernesto Mansilla, Sinead Brodd + Clemens Fröhlich, Elisa Ghisalberti + Timoor Afshar, Alicia Torronteras + Alessandro Giaquinto sowie Veronika Verterich + Moacir de Oliveira.

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Agnes Su und Marti Fernandez Paixa in „Le jeune homme et la mort“.  Foto: Stuttgarter Ballett

Ebenfalls eine verspätete Premiere beim Stuttgarter Ballett ist Roland Petits 1946 in Paris uraufgeführtes, sogenanntes mimisches Drama „LE JEUNE HOMME ET LA MORT“. Mögen diesen typischen existenzialistischen Stoff von Jean Cocteau mit etwas theatralischen choreographischen Zügen auch manche Tanzliebhaber als gestrig abtun – so zeitgebunden ist diese Art von Surrealismus nun auch wieder nicht. Außerdem ist ein erzählendes Ballett mit dem Spagat zwischen klassischer Basis und Alltagsgesten immer ein lohnendes Feld für Tänzer und ihre darstellerische Ausdrucksfähigkeit. Und so beweist der erst kurz davor zum Ersten Solisten beförderte Marti Fernandez Paixa, dass er jetzt zurecht in die vorderste Front berufen wurde. Sein Charme und seine Einfühlsamkeit in die psychischen Belange einer Figur geben dem Künstler, der da in einer spärlich möblierten Pariser Mansarde wohnt und an seiner zwischen Erfolg und Zweifel schwankenden Existenz zu zerbrechen droht, ein sympathisches Profil. Sein eher sanftes, weiches Gepräge bleibt selbst in den artistischen Momenten, wenn Tisch und Stuhl zu außergewöhnlichen Protagonisten werden, vorherrschend, wodurch er auch in mimischer Hinsicht nie in Gefahr gerät zu übertreiben. Die schillernde Rolle der jungen Frau, die da in gelbem Kleid mit schwarzer Perücke und schwarzen Handschuhen an seiner Tür klopft, auf seine Avancen erst ablehnend und dann mit verführerischem Liebreiz reagiert, ehe sie eine herab hängende Schnur zur Schlinge knotet und ihn zum Selbstmord leitet, wird von der Solistin Agnes Su ebenso einfühlsam und mit der erforderlichen Raffinesse und Gelassenheit für den lockenden Todesengel interpretiert. Nachdem die Wände der Mansarde nach oben entschwinden und ein nächtlich beleuchtetes Paris mit Eiffelturm (Bühnenbild: Georges Wakhevitch) sichtbar wird, befreit ihn die nun in weißem Kleid und rotem Umhang erscheinende Frau wieder aus der Schlinge, hält ihm die zunächst selbst getragene Totenkopfmaske vors Gesicht und weist ihm den Weg über die Dächer. Getragen von Bachs Passacaglia und Fuge in c-moll, die hier nicht in der Orchestrierung von Ottorino Respighi, sondern im Original von Jörg Halubek live gespielt den Raum füllt und sich von leisem Beginn letztlich wie zu einer volltönenden Apotheose steigert, erlebt das gut 20minütige Stück eine stetig anschwellende Entwicklung bis zum Höhepunkt. Geschmack hin oder her – alles in allem ist das ein wertvoller Repertoire-Zugewinn.

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Fesselnder Protagonist in „Bolero“: Jason Reilly. Foto: Stuttgarter Ballett

Als krönender Abschluss ist der „BOLERO“ ein immer wiederkehrender Gigant in den unterschiedlichsten Ballettabend-Programmierungen. Auch mit reduzierter Gruppe (18 statt 30) und zugespielter Musik vom Band (die Vorschriften erlauben immer noch kein so groß besetztes Orchester) büßt dieses absolute Unikum der Musikgeschichte in der rauschhaft entfesselten Choreographie von Maurice Béjart nichts von ihrer rhythmisch-tänzerischen Sprengkraft ein. Die Figur auf dem zentralen roten Tisch ist an diesem Abend wieder einmal Kammertänzer Jason Reilly. In der Spätphase seiner Karriere wirkt der Afro-Kanadier bei diesem konditionellen Kraftakt besser konditioniert und gelöster als zuletzt. Auf seine hier so essentielle erotische Aussendung ist stets Verlass und die Körperspannung ist durchweg gehalten, auch wenn der Bewegungsduktus insgesamt etwas leichter und weniger auf reine Kraft bauend sein dürfte, um der bis zum Anschlag in sich kreisenden und schließlich zusammen brechenden melodischen Keimzelle ganz gelöst zu folgen.

Die Rhythmusgruppe wurde von Alexander Mc Gowan und Ciro Ernesto Mansilla mit etwas zu deutlich kontrastierenden Bewegungs-Charakter angeführt.

Der Jubel liegt unabhängig von den Ausführenden in der Luft und hält auch diesmal wieder verdient für viele Vorhänge an.

Udo Klebes

 

 

 

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