Stuttgart
„CRANKO“ – ein Film von Joachim A.Lang 20.9. (Premiere im Opernhaus):
Friedemann Vogel (H.Clauss) vor dem nächtlich beleuchteten Stuttgarter Opernhaus. Copyright: Philip Sichler
Die neue Saison beim Stuttgarter Ballett begann nicht mit einer Ballett-Premiere oder Wiederaufnahme, auch nicht mit einer normalen Repertoire-Vorstellung, sondern mit dem außergewöhnlichen Ereignis einer Filmpremiere. Der seit 1986 für den SWR tätige Redakteur und Regisseur Joachim A.Lang hat, was ohnehin schon lange fällig war, einen Film über jenen Mann gedreht, der die Tanzwelt verändert, ja revolutioniert und das Stuttgarter Ballett in 12 Jahren zu Weltruhm gebracht hatte: John Cranko. Folgerichtig wurde die Premiere vor dem eigentlichen Kinostart am 3. Oktober zu einer feierlichen Veranstaltung im Opernhaus, am Originalschauplatz von Crankos Wirken, mit einem Einzug aller Tänzer und sonstigen wichtigen Beteiligten in eleganter Abendgarderobe auf dem über die Freitreppe ausgelegten Roten Teppich wie bei den bedeutenden Filmfestspielen der Welt.
Ein würdiger Rahmen für einen außergewöhnlichen Film, einen wirklichen Ballettfilm, bei dem es nicht wie in vorhergehenden dieses Genres auch viel um nebensächliche Themen geht. Hier stehen der Widmungsträger und die ihn unmittelbar betreffenden Details seines Lebens, seines Wesens und seiner Kunst im Mittelpunkt. Ein hohes Maß an Detailgenauigkeit wurde durch die tatkräftige Beratung und Unterstützung der größtenteils noch lebenden wichtigsten Mitstreiter Crankos ermöglicht, so dass markante Momente, Vorfälle und Ereignisse seiner Stuttgarter Jahre in authentischer Beleuchtung eingefangen werden konnten. Einige Begebenheiten, die wohl einem großen Teil des Stammpublikums aus Erzählungen, Interviews und Büchern bekannt gewesen sein dürften, sind präzise, in kurzen, mal ernsthaften, mal heiteren Dialogen eingefangen, wie z.B. seine Versuche einen Taxifahrer und einen Kraftfahrer in seine Welt einzuweihen, seine unmissverständlich eigenwilligen Bedingungen fest nach Stuttgart zu kommen und dort auch zu bleiben, seine grenzenlose Liebe und Besessenheit für die Kunst, seine manchmal verletzende Direktheit mit nachfolgender Entschuldigung, aber auch seine Hypersensibilität und Empfindlichkeit gegenüber Kritik an seiner Arbeit. Geschickt sind Tanzszenen ins Spiel verwoben und gehen im Idealfall direkt ineinander über. So mündet z.B. sein Schmerz über eine vernichtende Besprechung des damals führenden kritischen Journalisten Horst Kögler unmittelbar in Lenskis von Trauer und seelischer Verletzung geprägtes Solo aus „Onegin“ und macht deutlich, woraus die immer wieder bewunderte charakterliche Tiefe von Crankos Ballettfiguren entstanden ist.
Als Leitmotiv steht der musikalisch elegische dritte Satz aus Crankos persönlichstem Werk „Initialen R.B.M.E.“ im Zentrum des Films, am Beginn, mehrmals wiederkehrend und am Schluss als Sinnbild von Abschied und Einsamkeit, die die tragische Rückseite von Crankos künstlerischem Ruhm ausmachte. Sinnbildlich stimmungsvoll sind auch die Szenen auf dem nächtlichen Opernhaus-Vorplatz am See gelungen, wo Cranko bei seinen Nachhause-Gängen die Gestalten seiner Ballette, wie z.B. die beiden Clowns aus „The Lady and the fool“ und das Corps aus den bereits erwähnten „Initialen“ vors geistige Auge treten. Außerdem wird die Entstehung und Erarbeitung seiner Handlungsballette „Romeo und Julia“ (mit dem ersten Kontakt seines künftigen Bühnenausstatters Jürgen Rose) und „Onegin“ in gut ausgewogenen Szenen geschildert, auch das wieder einmal für eine Wiederaufnahme fällige „Opus 1“ mit der kurzen Zeitraffer eines Menschen von der Geburt bis zum Tod rückt äußerst eindringlich vor das Auge des Zuschauers. Ob Crankos drittes bedeutendes Handlungsballett „Der Widerspenstigen Zähmung“ als wichtiger heiterer Gegenpol zu tragischen Geschichten unter den Tisch gefallen oder aus sonstigen Gründen nicht berücksichtigt wurde? Jedenfalls hätte dieses Gipfelwerk dünn gesäter komischer Ballette im Sinne von Crankos Verehrung für Shakespeare, seines ungewöhnlichen Bewegungs-Vokabulars und der Überzeugung seiner Primaballerina Marcia Haydée als Komödiantin nicht fehlen dürfen. Und nicht zuletzt aufgrund des besonders gewichtigen ersten Gastspiels am Bolschoi-Theater Moskau, das im Gegensatz zu den beiden Tourneen in die USA im Film leider nicht berücksichtigt wurde.
Monieren könnte man auch die hin und wieder mangelnde Synchronität zwischen den Musikeinspielungen und den gezeigten choreographischen Bewegungen, doch kann das auch gelassen betrachtet werden, weil Cranko mehr auf das Menschsein seiner Tänzer als auf deren Präzision Wert legte.
Cranko war in seinen künstlerischen Ansprüchen in Verbindung mit seinen Lastern des Kettenrauchens und übermäßigen Alkoholkonsums eine schillernde, letztlich tragische Gestalt, die an der zerstörerischen Lebensführung (er starb 1973 auf dem Rückflug von New York im Schlaf durch Ersticken an Erbrochenem) viel zu früh von uns ging. Der britische Schauspieler Sam Riley verkörpert Cranko äußerst feinfühlig, glaubhaft im Wechsel zwischen Begeisterung und Unbeherrschtheit, seiner linken Hand für die alltäglichen Dinge zuhause, was auch in einigen Beispielen in dem Kavaliershäuschen bei Schloss Solitude gezeigt wird, das Cranko zusammen mit seinem Sekretär, engen Freund und Erben Dieter Gräfe sowie dem Tänzer und späteren Intendanten Reid Anderson für einige Jahre bis zu seinem Tod bewohnt hatte. Auch den überlieferten intensiven, mal leuchtenden, mal tief traurigen Blick des Choreographen hat Riley gut getroffen.
Sam Riley (J.Cranko) und Elisa Badenes (M.Haydée) bei der Ankunft von der 1.USA Tournee. Copyright: Wolfgang Ennenbacher
Was den Film besonders auszeichnet ist die Besetzung der damaligen Tänzer-Persönlichkeiten mit den heutigen Mitgliedern des Stuttgarter Balletts anstatt Schauspielern, die die Tanzszenen nicht umsetzen hätten können und so jede Rolle in zwei Darsteller aufgesplittet hätte. Allen voran überzeugt Elisa Badenes als Marcia Haydée, die am ausführlichsten berücksichtigt wurde, während die anderen von Crankos Großen Vier, vom Typ her gut passend, doch etwas knapp ausfallen: Rocio Aleman als Birgit Keil, Marti Paixa als Richard Cragun und Henrik Erikson als Egon Madsen. Jason Reilly macht als Haydées erster Partner Ray Barra auch in sprechender Funktion gute Gestalt, Friedemann Vogel gibt dem ersten Onegin Heinz Clauss auch schauspielerische Noblesse. Mit Satchel Tanner als Vladimir Klos und Adrian Oldenburger als Reid Anderson sind auch zwei Halbsolisten zu kleinen beachtenswerten solistischen Filmehren gekommen.
In den maßgeblichen Rollen von Crankos Umfeld sind Hanns Zischler als Theaterintendant W.E.Schäfer, Max Schimmelpfennig als Dieter Gräfe, Louis Nitsche als Jürgen Rose, Gerrit Klein als sein einziger, leider nur kurzfristiger Lebenspartner Alexander und Lucas Gregorowicz als Noverre-Gesellschaft-Begründer Fritz Höver allesamt gelungene Charaktere.
Nach der kurz gezeigten Todesszene im Flugzeug endet der Film am Grab mit allen Beteiligten, wobei das jeweilige Vortreten der damaligen und heutigen Tänzer besonders berührt. bewegt. Nach gut gefüllten, immer wieder bewegenden und ohne Längen auskommenden zwei Stunden erhob sich das Publikum spontan zu stehenden Ovationen. Anschließend bat der Regisseur alle Beteiligten vor und hinter der Kamera auf die Bühne und bedankte sich in individuell ausgerichteten Worten für die gute Zusammenarbeit und letztlich die Möglichkeit, durch die Beschäftigung mit Cranko und zahlreichen Gesprächen mit seinen Zeitgenossen viele bereichernde Erfahrungen gemacht zu haben.
Udo Klebes