STUTTGART / Ballett: „Onegin“ am 27.10.2017 – 50 Jahre Crankos Onegin Jubiläumsvorstellung
Sinnsuche, Reue und zu spät entdeckte Liebe – Friedemann Vogel als facettenreicher Onegin. Foto: Stuttgarter Ballett
Man mag es kaum glauben, doch das inzwischen wohl beliebteste Ballett der Stuttgarter, John Crankos „Onegin“, hatte in seiner Heimatstadt einen schwierigen Start: „Ein Ärgernis“ war die Überschrift der Premierenkritik in der Stuttgarter Zeitung, denn schon die Absicht, aus einem der wichtigsten Werke der russischen Literatur ein Tanzvergnügen zu machen, ließ selbst Nichtrussen das Unterfangen mit Argwohn betrachten. London, wo Cranko das Werk ursprünglich inszenieren wollte, verwehrte den Wunsch schlichtweg. Ein Glück für Stuttgart, denn 1965 entstand somit hier die erste Fassung des Balletts, dessen 1967 überarbeitete Fassung schließlich die Welt eroberte und mit der Aufführung an der berühmten Met in New York gar das „Stuttgarter Ballettwunder“ begründete.
50 Jahre später, vor der ersten Vorstellung aus der Reihe der Jubiläumsvorstellungen, ist die Spannung natürlich groß und das Sonderprogramm, mit Fotos unzähliger Hauptdarsteller aus der ganzen Welt, erinnert daran welche Bedeutung das Werk inzwischen weltweit erlangt hat. Dazu noch eine Besonderheit: Marcia Haydée, die Tatjana der Uraufführung sowie die der Premiere der Neufassung, wird nun – als wäre der Bühnenauftritt in ihrem Alter nicht erstaunlich genug – auch noch ein Rollendebüt als Tatjanas Amme geben.
In den Hauptrollen sind dagegen – nicht überraschend – rollenerfahrene Solisten zu sehen. Als zweites Hauptpaar, Olga und Lenski, erfüllen Elisa Badenes und David Moore den ersten Akt mit der Harmonie des verliebten jungen Paares. Vor allem Badenes sprüht vor Lebensfreude, lässt bereits jedoch von der verspielten Naivität und gedankenloser Koketterie erahnen, die im 2ten Akt zum verhängnisvollen Duell zwischen Onegin, dessen Flirt sie sich geschmeichelt hingibt und ihrem Verlobten Lenski, führen wird. Technisch mit der Rolle spielend kann sie sich vollends auf ihren Ausdruck und das Partnern konzentrieren, was dazu beiträgt, dass auch die Pas de deux mit Moore, trotz unterschiedlicher Stile der beiden, sehr stimmig und stets auf den Punkt gelingen. Beeindruckend auch die schlagartige Verwandlung von Badenes, als ihr die Auswirkung ihrer Leichtsinnigkeit klar wird und sie Lenski umzustimmen versucht, um dann verzweifelt zu Boden zu fallen, nach dem Kuss vor dem Duell, als nichts mehr zu retten war.
Nicht ganz so auf dem Leib geschnitten ist David Moore die Rolle des Lenski, wirkt er alleine durch seine Erscheinung eher als edler Prinz und weniger als verspielt/verträumter Poet. Das erste Solo, wohl entscheidend für die Sicherheit in der Rolle, die technisch zu den schwierigsten zählt, legt Moore etwas minimalistisch und mit flachen Sprüngen aus, dafür immer sicher und im richtigen Rhythmus. Deutlich mehr liegt ihm der zweiten Akt, in dem er mit Spannung die Wut des verratenen Verlobten aufbaut bis hin zu Onegins Aufforderung zum Duell – so dramatisch und auf den Punkt genau mit der Musik, dass er das Publikum schaudern lässt. Der Höhepunkt seines Lenski ist jedoch sicher das Solo vor dem Duell: sicher in den schwierigen Abfolgen aus Drehungen, Arabesquen und Balanceelementen berührt er vor allem in den von den Knien tief nach hinten fallenden Bögen, als Zeichen der Verzweiflung und des Haderns mit dem Schicksal. Unversöhnt und unerbittlich, allen Anflehungen zum Trotz, geht er zum Duell gegen den viel geübteren Onegin in den sicheren Tod.
Voller Tragik zeigt dieses Duell schicksalhafte Parallelen mit der Geschichte Alexander Puschkins, dem Autor des zugrunde liegenden Versromans, starb dieser ja einige Jahre später selbst an den Folgen eines Duells gegen seinen Schwager, der seiner schönen Frau allzu auffällig die Verehrung zeigte.
Viele Male war Alicia Amatriain in der Rolle der Tatjana schon zu sehen, doch an diesem Jubiläums-Abend, in Anwesenheit illustrer Gäste wie Marcia Haydée und den Erschaffer des wunderbaren Bühnenbildes und der zeitlos-schönen Kostüme, Jürgen Rose, schien Amatriain neue Inspiration für ihre Rolleninterpretation gefunden zu haben. Vom verträumten und in eigener (Bücher-)Welt vertieften Mädchen, das sich unsterblich in den faszinierenden, weltgewandten Onegin verliebt, entwickelt Amatriain ihre Tatjana zur selbstbewußten Frau, die an ihren Erfahrungen gereift ist, um am Ende doch zerissen von der eigenen Entscheidung gegen ihre Gefühle, verzweifelt und in Tränen aufgelöst, auf der Bühne zurückzubleiben. Auch wenn ihr im Schluss-Pas de deux etwas die Kraft auszugehen schien und sie da kaum merkbar durch ihrem Partner aufgefangen werden musste, wirkte sie insgesamt in der Rolle so natürlich wie bisher kaum und berührte dadurch umso mehr, so auch im Pas de deux in der Ballszene, mit Jason Reilly als sehr präsentem und fürsorglichem Fürst Gremin.
Der Höhepunkt an dem Abend war aber zweifellos der Spiegel-Pas de deux, in dem Amatriain ihre leidenschaftliche Liebe, die nur im Traum Erfüllung fand, offen und furchtlos zeigen konnte. „…das Glück war möglich, es war so nah…“ sagt Tatjana zwar erst zum Schluss, als sie Onegin abweist, im Spiegel-Pas de deux wird jedoch vermittelt, was dies bedeutet und welche Chance vertan wurde. Zu verdanken war diese Wirkung sicherlich auch Friedemann Vogel, Amatriains lang vertrauter und stets zuverlässiger Partner, der sie schwerelos durch fast alle Hebefiguren schweben liess, wodurch der Zauber dieses Traumes möglich wurde.
„…das Glück war möglich, es war so nah…“ Tatjana (Alicia Amatriain) und Onegin (Friedemann Vogel). Foto: Stuttgarter Ballett
Im Gegensatz zu Amatriain tanzt Vogel die Rolle des Onegin erst seit 2015, war er davor ja lange als einer der herausragendsten Lenski-Interpreten bekannt. Dennoch gelang es ihm von Anfang an, der Rolle seine eigene Interpretation zu verleihen, facettenreich wie der Charakter, bestimmt und dennoch mit überraschender Neugierde. Dies wird bereits im Spaziergang mit Tatjana deutlich, im Solo das die Visitenkarte eines jeden Onegin-Interpreten darstellt. Der charakteristischen Onegin-Geste – die rechte Hand mit dem Handrücken an die Stirn zu führen – die die meisten Onegins vor allem in der Drehkombination kaum oder höchstens zügig ausführen, verleiht Vogel seine eigene Note, in dem er die Hand betont langsam und genau auf die Musik zur Stirn führt, um sie dann rasch im geschmeidigen Bewegungsfluss wieder zu senken. Darin vereint er gleich mehrer Züge Onegins: der von der oberflächlichen Gesellschaft Gelangweilte, das Grüblerische sowie eine gewisse Heiterkeit.
Das wohl Verblüffendste an Vogels Interpretation, das einem vielleicht erst im Nachhinein bewusst wird, ist, dass es ihm gelingt Verständnis für diesen hochmütigen Egozentriker zu vermittlen, der nie echtes Leiden erfahren hat und als stetig Suchender – nach Sinn aber auch nach Zerstreuung und Triumphen – durchs Leben geht, bis er entdeckt, was er ohne der Liebe zu Tatjana verpasst hat. Melancholisch-unnahbar am Anfang, verführerisch flirtend mit Olga, reumütig nach dem Duell, leidenschaftlich liebend im Spiegel-Pas de deux oder verzweifelt um die Liebe kämpfend am Ende – Vogel tanzt alles so voller Anmut und Charme, dass ihm das bei Onegin kaum Denkbare gelingt: diesen als liebenswert darzustellen.
James Tuggle und das Staatsorchester Stuttgart begleiteten mit viel Gefühl für die Tänzer an einem emotionalen Abend, der mit Standing Ovations endete, sowohl für die Compagnie als auch für die Ehrengäste Marcia Haydée und Jürgen Rose.
Dana Marta