STUTTGART
Ballett: „NOVERRE-GESELLSCHAFT – JUNGE CHOREOGRAPHEN 2018“ am 14.06.2018 – Vor dem Ende der Gesellschaft noch das 60-jährige Jubiläum auf hohem Niveau
Kaum zu glauben, vor allem vermutlich für das jüngere Publikum des Abends, dass die Noverre-Gesellschaft der Freunde des Balletts dieses Jahr ihr 60-jähriges Jubiläum feierte. Die 1958 vom Ballettenthusiasten Fritz Höver gegründete Gesellschaft hatte das Ziel, dem damals neben Oper und Schauspiel eher ungeliebten Stiefkind Ballett zu mehr Ansehen und Publikum zu verhelfen. Mit der Unterstützung von John Cranko, der 1961 nach Stuttgart kam, begann die Vorstufe des heutigen Junge Choreographen Abends, mit ballettvermittelnden Vorträgen und Uraufführungen von Compagniemitgliedern. Das Publikum wurde imner größer und inzwischen gehört der Noverre-Abend zu den beliebtesten der Spielzeit, der meist ausverkauft ist. An diesem Abend erinnerten auf den Zwischen-Vorhängen Zitate von inzwischen weltbekannten, großen, teils revolutionären Chreographen wie John Neumeier, William Forsythe, Jiří Kylián, Christian Spuck, Marco Goecke u. m. an den großen Verdienst der Gesellschaft, die seit jeher junge Choreographen fördert und unzählige junge Talente hervorgebracht hat.
Zehn neue Stücke, sechs davon von Tänzern des Stuttgarter Balletts, wurden präsentiert, allesamt von choreographischem Geschick zeugend, mehr oder weniger originell, jedoch immer mit einer Idee oder Botschaft, sei diese auch nur eine Stimmung.
Gleich zu Beginn eine bereits reife Choreographie von Aurora de Mori, die durch Musiker auf der Bühne – Klavier im Hintergrund, vorne links und rechts Violine und Cello, die Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ tönten – an Kammerballett erinnerte und eine romantische Stimmung erzeugte. Entsprechend harmonisch, rund und weich auch die Bewegungen, eine weibliche Chroegraphie für zwei Paare, die „Quintessenz der Vielfalt“ ausdrücken und somit Vielfalt auf das Wesentliche reduzieren will. Experiment gelungen!
Auf das Wesentliche reduzierte Vielfalt: Veronika Verterich und Timoor Afshar in „Quintessenz der Vielfalt“ von Aurora Mori Foto: Stuttgarter Ballett
Gefolgt wurde das Stück von einem kurzen Solo non Kirill Kornilov, das ausdrucksstark von Shaked Heller als „One“ („Einer“) vor und in einer Nebelwolke interpretiert wurde, ein Stück mit fließenden und dennoch kantigen Bewegungen, kurz und vielleicht gerade dadurch faszinierend.
Adrian Oldenburger versuchte in einem Pas de deux die Geschichte eines schwer kranken Mannes zu erzählen, der dennoch mit seiner Liebe noch tanzen will. Der Name „It’s what you make of it“ („Es ist das, was Du daraus machst“) kann nicht daran hindern, das Stück als seltsame Interpretation des Themas zu sehen, mit überflüssigem Bett und ständigem Griff zum Sauerstoffgerät. Losgelöst davon ist die Choreographie jedoch fesselnd und intensiv, mit spektakulären Hebefiguren – wohl eine Vorliebe von Oldenburger.
Alba Mendax („Weiß trügt“) ist hingegen ein passender Name für das Stück von Alessandro Giaquinto, der mit dem Gang einer Braut mit Schleider, jedoch in langem weißen Männerhemd, beginnt und so gleich stimmig in die Verstrickungen von Beziehungen einführt. Auch später tragen Damen Herrenjacken verkehrt herum, passend zum Thema. Choreographisch spannend aufgebaut, mit viel Humor, lässigen, lasziven aber auch impulsiven Bewegungen zeugt Giaquintos Stück von viel Sinn für Musikalität und sprüht vor Ideen. Ebenso wie seine Landsfrau de Mori ist der Italiener vielversprechend und macht neugierig auf die Zukunft.
Beziehungen verkehrt herum: Rocio Aleman und Timoor Afshar in „Alba Mendax“ von Alessandro Giaquinto Foto: Suttgarter Ballett
Ebenso mit einem Beziehungsdrama debütiert Martin Winter vom Wiener Staatsballett, ein Pas de deux der etwas anderer Art für das Ehepaar Miriam Kacerova und Roman Novitzky. Ein zylinderförmiger Dauerregen rechts auf der Bühne soll wohl den Namen des Stückes „When Tears Fall“ („Wenn Tränen fallen“) symbolisieren. Das ist gelungen, ebenso die dramatische Stimmung eines Paares das weder mit noch ohne einander kann und vor allem nicht ohne einander zu verletzen. Es wird gezogen, geschoben und geohrfeigt, dennoch ist kaum Neues zu sehen und das Stück dafür zu langatmig.
Weniger aufschlussreich ist die Choreographie von Jessica Fyfe. „Entropy“ soll den Gradmesser der Unordnung darstellen, das jedoch ausgerechnet mit einer sehr klassischen Choreographie, zu der eher der Name „Ballettschule für Fortgeschrittene“ passen würde und so auch durch die hervorragenden Tänzer nicht viel gewinnen konnte.
Dafür erzählt „Nachtstücke“ von Andreas Heise vom Norwegischen Nationalballett zu einem Beethoven-Adagio umso gekonnter, auf beeindruckend minimalistische Weise die Geschichte aus E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“. Ein spannungsvoller und dichter Pas de trois, einstweilen auch mit tollem Solo von Shaked Heller. Kraftvolle, von Liebe und Leidenschaft zeugende Tanzmomente, aber vor allem die teils autistische Bewegungssprache, die nervösen Zuckungen oder das marionettenartige Führen eines Tänzers durch den anderen, lassen starre Angst sowie die Macht des Sandmanns berührend zum Ausdruck bringen. Gerne würden wir in Stuttgart noch mehr von Heise sehen.
„Der Sandmann“ ohne Worte, in „Nachtstücke“ von Andreas Heise: Shaked Heller, Daiana Ruiz und Jason Reilly Foto: Stuttgarter Ballett
Shaked Heller zählt sicher zu den Entdeckungen des Abends, er überzeugt nicht nur in zwei Stücken in denen er tanzt, sondern auch in seiner eigenen Choreographie „Arpatruf“, u. a. auf einem russichen Lied basierend. Ein Stück, das in gekonnt farblosen Kostümen wohl von Insassen einer Anstalt oder eines Gefängnisses erzählt. Entsprechend grotesk die Bewegungen und Zuckungen. Das Gekrieche und Krabbeln am Boden werden aber auch mit viel Humor interpretiert. Originell, emotionsgeladen und konzentriert – das alles gelingt Heller bereits ganz gut und zählt sicher zu dem, was von dem Abend in Erinnerung bleiben wird.
David Rodríguez und Luke Prunty (Gauthier Dance) interpretieren ihr eigenes Stück „Peace, Peace, Peace“ überzeugend und wollen wie Felipe Portugal (Ballett Zürich) in die Fußstapfen ihrer Ballettdirektoren Eric Gauthier und Christian Spuck treten, die ebenfalls ihre Choreographenlaufbahn bei den „Jungen Choreographen“-Abende begannen. Während Rodríguez und Prunty auf Regengeräusche am Anfang ängstlich und am Ende flehend, eher bewegungsarm zum Frieden aufrufen, zeigt Portugal auf Musik von Arvo Pärt zwar eine schlüssige Choreographie, „Heavy Lightness“ („Schwere Leichtigkeit“), die jedoch zu lang und mehr schwer als leicht wirkt. Trotz gutem Handwerk, Raffinesse und vier ausdrucksstarken Tänzern vermag das Stück es kaum zu bewegen.
So ein Abend wäre nicht möglich ohne der Wirkung der Tänzer des Stuttgarter Balletts, die in ihrer Freizeit proben um die jungen Choreographen zu unterstützen. Vor allem die junge Generation hatte wieder Gelegenheit sich zu zeigen und somit gilt neben den Choreographen auch ihnen und ihren vielen Kollegen der Dank für den gelungenen Abend: Agnes Su, Flemming Puthenpurayil, Timoor Afshar, Daniele Silingardi, Veronika Verterich, Diana Ionescu, Daiana Ruiz, Aiara Iturrioz Rico, Christopher Kunzelmann, Maria Andrés Betoret, Vittoria Girelli u. v. m.
Am Tag nach der Premiere wurde überraschend verkündet, dass die Gesellschaft bis Ende des Jahres aufgelöst wird. Zu wenige freiwillige Mitglieder waren nach Fritz Hövers Tod vor drei Jahren bereit, die Verantwortung zu übernehmen. So bleibt nur die Hoffnung im Versprechen, das der neue Intendant des Stuttgarter Balletts, Tamas Detrich, im Gespräch mit Vereinsmitgliedern gab, „alles Mögliche zu tun, um diese einzigartige Plattform zu retten“. Detrich will alle Möglichkeiten erkunden, die Jungen Choreographen direkt beim Stuttgarter Ballett anzusiedeln. „Der Name Noverre, sowie der Geist und Sinn dieses Unterfangens – jeder kann, soll und darf sich choreographisch ausprobieren und vor allem experimentieren – würde auf jeden Fall erhalten bleiben.“ Angesichts der Erfolgsgeschichte und des Potenzials der Plattform, sollte sich Detrich dies auf keinem Fall entgehen lassen.
Dana Marta