Foto: Ludwig Rensch
Premiere von „Die Stille der Stadt“ mit dem Citizen-Kane-Kollektiv im Mikrotheater am 11. 1. 2019/STUTTGART
Das Gebäude erforschen
Eine ungewöhnliche Performance bietet das Citizen-Kane-Kollektiv in einem leerstehenden Fabrikgebäude am Gaskessel in Stuttgart. Der Regisseur Christian Müller wurde dabei von der amerikanischen Autostadt Detroit inspiriert, wo der Niedergang der Infrastruktur an allen Ecken und Enden greifbar ist.
In Stuttgart kann man nun ein riesiges leerstehendes Gebäude erforschen. 13 Räume bieten hier Raum für vier Performance-Veranstaltungen. Den Auftakt macht die in Rotlicht getauchte Bar, wo „Putte“ interviewt wird, der als „Stadtist“ für den Stuttgarter Gemeinderat kandidiert. Zuletzt arbeitete der Maler Nicolas Schützinger in dem Fabrikgebäude, deswegen werden in der Ausstellung von Piotr Goldman Werke aus Malerei und Grafik der letzten vier Jahre gezeigt. Ungewöhnliche Wege beschreitet außerdem die subtile Installation „Taube“ (Lotte Lindenborn), bei der die Tiere zu sprechen scheinen. Ein seltsamer Weihrauchduft durchzieht in geheimnisvoller Weise das Haus. Die Schauspielerin Andrea Leonetti liefert bei „Die Stadt als Hure“ den beklemmend-beeindruckenden Monolog einer Prostituierten, die auf ihr trostloses Leben hustend zurückblickt. Hinter der Pelzmantel-Idylle verbirgt sich eigentlich eine Tragödie. Ingrid B. war einmal die Beste. Ihr Niedergang begann mit einem automobilen Erdbeben. Die Frau schrumpft immer weiter, sie liegt in Trümmern. Immer wieder scheinen Pilze aus dem Boden zu sprießen (Paulina Mandl). Alex Wunsch und Christian Müller präsentieren dann „Die Ruinen von Stuttgart“ in fahlen Bildern, die sich tief einprägen. Interessant ist hier der ständige Wechsel zwischen Theater und Performance. Das lässt sich auch im golddurchwirkten Fernsehraum nicht mehr trennen. Man spürt, dass in dem dreiteiligen Komplex verschiedene Gewerbe existierten, die Vergangenheit schwingt hier immer wieder mit: Asiamarkt, Arztpraxis, Weinstube, Nachtclub, Büroräume, Pensionszimmer oder private Wohnräume. Da geht alles minuziös ineinander über, die visuellen Perspektiven werden verschoben.
Bei diesen ungewöhnlichen theatralen Untersuchungen möchte das Citizen-Kane-Kollektiv den Zerfall der Stadt, der Familie und des Individuums in den Mittelpunkt rücken, was gut gelingt. So geht in Stuttgart alles den Bach hinunter. Das demonstrieren ebenso Maik Mauer („Der Eisberg“), Jürgen Kärcher („Gran Turismo“), Jan Anderson („Wie es war“) oder Jonas Bolle („Schwanenknochen“). Gleichzeitig bleibt das Haus höchst lebendig, man muss als Betracher aber alle Sinne und Gerüche wahrnehmen, um hinter die letzten Geheimnisse zu kommen. So werden Rückschlüsse auf den Alltag gezogen, dessen Wahrnehmungen immer seltsamer und unheimlicher werden. Obwohl die Bar letztendlich alle Menschen miteinander verbindet, bleibt die Verworrenheit zurück. Dies zeigt ebenso „The Hole“ von Ema Staicut. Die Bar verknüpft weiterhin die Performances, Ausstellungen und Installationen miteinander. Klar wird auch, dass die Stadt an ihrer Autoindustrie gestorben ist. Der Mercedes-Stern ist merklich verblasst. Alex Wunsch und Christian Müller haben den Zerfall in Fotografien und Texten dokumentiert.
Pflanzen nehmen hier die imaginären Ruinen ein. Tauben treffen auf menschliche Außenseiter. Der Filmessay „Der Eisberg“ setzt sich schließlich mit dem Ist-Zustand eines Automobilherstellers und dessen gesellschaftlichen Einfluss auseinander. Und die Einlagen der Band wirken elektrisierend. Die trügerische schwäbische Idylle wird so gründlich entzaubert.
Alexander Walther