Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

STUTTGART/Liederhalle: SWR Symphonieorchester unter Pierre Bleuse mit Sol Gabetta (Cello). (Verunelli, Lalo, Berlioz)

01.11.2025 | Konzert/Liederabende

SWR Symphonieorchester unter Pierre Bleuse mit Sol Gabetta (Cello) am 31. Oktober 2025 in der Liederhalle/STUTTGART

Grabgesang als Parodie

Unter der einfühlsamen Leitung von Pierre Bleuse stürzte sich das konzentriert musizierende SWR Symphonieorchester gleich zu Beginn in ein Abenteuer. „Tune and Retune II“ für Orchester von Francesca Verunelli spielt virtuos mit Elementen der Mikro-Tonalität und differenzierten Dynamik. Glissando-Effekte, veränderte Klangfarben und gewaltige Crescendo-Wirkungen reichern dieses ungewöhnliche Werk an. Hinzu kommen chromatische Arabesken der Blechbläser. Das SWR Symphonieorchester unter Bleuse gewann dieser Musik hypnotische Wirkungen ab, man konnte so entdecken, wie Zeit vergeht. „Zeit“ steht überhaupt im Mittelpunkt von Francesca Verunellis Werken, schwebende Klangflächen unterstreichen immer wieder diese Erkenntnis. Stimmungssysteme und Obertonspektren vereinten sich hier zu einem packenden Klangkosmos, dessen Intensität nicht nachließ.

Beim Konzert für Violoncello und Orchester in d-Moll von Edouard Lalo stand die hervorragende Cellistin Sol Gabetta im leuchtkräftigen Mittelpunkt. Sie kostete die reiche und gewichtige thematische Substanz dieses Werkes überaus einfühlsam aus. Die langsame Einleitung wurde voll betont. Sie nahm im Rezitativ der Solistin einige Gedanken voraus, die später im Allegro kunstvoll verarbeitet wurden. Als Hauptthema beschwor Sol Gabetta hier einfühlsam eine markante und kraftvoll bewegte Melodie. Dieses im Dreiklang steil aufsteigende Motiv beherrschte die harmonische Struktur des Werkes. Effektvoll-pathetische Melodik paarte sich dabei mit dem lyrischen zweiten Thema und der Virtuosität der Cellistin, die vom SWR Symphonieorchester unter Pierre Bleuse in bewegender Weise begleitet wurde. Der Mittelsatz fesselte mit einem melodiösen Andantino sowie einem temperamentvollen Presto. Rhythmische Verschiebungen überraschten den Hörer immer wieder. Im Schlusssatz entfaltete sich neben einem gesanglich schönen Andante ein effektvolles Scherzo mit punktiertem Achtelrhythmus.

Bei der Wiedergabe der Symphonie Fantastique op. 14 von Hector Berlioz trat das an Beethoven angelehnte Formgerüst deutlich hervor. Ein junger empfindsam-fantasievoller Künstler hat aus unglücklicher Liebe Opium genommen und wird nun von Träumen und Visionen verfolgt, die um die Geliebte kreisen. Berlioz‘ unglückliche Leidenschaft für die britische Schauspielerin Henriette Smithson war der inspirierende Anlass für dieses Werk. Die „Geliebte“ war leitmotivisch als „idee fixe“ bei der subtilen Wiedergabe durch das SWR Symphonieorchester unter Pierre Bleuse markant herauszuhören. Im leidenschaftlich aufgewühlten ersten Satz wurde der Hörer Zeuge von „Träumereien und Leidenschaften“ des jungen Künstlers. Von Sehnsucht bis zur Eifersucht durchlitt er alle Qualen einer unglücklichen Passion. Ein duftig-elegant musizierter Walzer beherrschte den zweiten Satz, der virtuos eine festliche Atmosphäre malte. Ausgezeichnet interpretierte Pierre Bleuse mit dem  Orchester das Adagio des dritten Satzes als „Szene auf dem Lande“. Um Ruhe zu finden, hat sich der Künstler in die Natur geflüchtet. Englisch Horn und Oboe agierten als zwei Schäfer, die den elegischen Kuhreigen blasen. Die friedliche Abendstimmung besänftigte ihn – doch plötzlich tauchte wieder erschreckend das Bild der „Geliebten“ vor ihm auf. Der Zauber des abendlichen Naturidylls trübte sich ein, der zweite Schäfer antwortete nicht der Hirtenmelodie. Fern grollte der Donner wie unheilverkündend in die einsame Stille. Als makabres Scherzo beschwor Pierre Bleuse dann den „Gang zum Hochgericht“ als vierten Satz, wo der Künstler träumt, er habe seine untreue Geliebte ermordet und werde zum Richtplatz geführt, wo er seiner eigenen Hinrichtung beiwohnt. Grausig-düster hob hier der schauerliche Marsch an, begleitet vom Gejohle der Gaffer. Der letzte Gedanke des Künstlers beschwor noch einmal das traumschöne Bild der „Geliebten“ – dann sauste das Fallbeil der Guillotine im Wirbel von Pauken und Trompeten nieder! Pizzicati der tiefen Streicher und ein ungeheurer Fortissimoschlag des Orchesters beendeten den Spuk. Die Interpretation war tiefgründig und blieb nie an der Oberfläche. Das war auch im letzten Satz der Fall, wo ein Hexensabbat in einer Klangorgie von gewaltigen Ausmaßen geschildert wird. Ächzen, gellendes Lachen und fernes Schreien verstärkten den Eindruck  des Grausig-Grotesken, zum frechen Hexentanz gesellten sich die Sterbeglocken. Als wilde Fuge begann der Hexentanz, dem die Bläser wieder das gespenstische „Dies irae“ beifügten. Die virtuos-raffinierte Entfesselung hatte ihren Höhepunkt erreicht! Der Grabgesang wurde hier zur grausigen Parodie. Das Fugenthema erschien chromatisch verzerrt. Tuben und Fagotte bliesen zuvor den düster feierlichen Choral, Posaunen und Hörner nahmen in der Verkürzung das Thema auf, die Geigen wiederholten es verkürzt als schaurige Parodie.

Jubel und viele „Bravo“-Rufe im Beethovensaal. 

Alexander Walther

 

Diese Seite drucken