SWR Symphonieorchester in der Liederhalle Stuttgart mit Werken von Schreker, Berg und Strawinsky am 18.11.2022//STUTTGART
Verführerischer sinnlicher Reichtum
Dieses besondere Konzert erinnerte an den zeitweilig vergessenen österreichischen Meister Franz Schreker, der um 1910 neben Richard Strauss der erfolgreichste Opernkomponist war. Vasily Petrenko eröffnete dieses Konzert mit dem SWR Symphonieorchester mit Franz Schrekers „Vorspiel zu einem Drama“. Es handelt sich hier eigentlich um das Vorspiel zu seinem damals berühmten Musikdrama „Die Gezeichneten“, das in den Jahren 1913 bis 1915 entstanden ist und zu einem sensationellen Erfolg wurde. In dieser Oper geht es um einen Mann, der durch seine Missgestalt gebrandmarkt ist. Das Werk handelt von dem buckligen Grafen Alviano Salvago, dem adligen Wüstling Conte Tamare sowie einer schönen Malerin. Am Schluss muss Alviano Tamare ermorden, um die junge Malerin vor dessen ausschweifenden sexuellen Belästigungen zu schützen. Der farblich unendlich differenzierte Klang dieser Partitur kam mit dem SWR Symphonieorchester unter Petrenko glänzend zum Vorschein. Und auch der verführerische sinnliche Reichtum dieser Musik prägte sich tief ein. Das rhythmisch verfremdete, gigantisch aufgeblährte Walzerthema verfehlte seine hypnotisierende Wirkung nicht.
Dann interpretierte die israelische Sopranistin Chen Reiss sieben frühe Lieder in der Fassung für Sopran und Orchester von Alban Berg. Die einzelnen Nummern „Nacht“ (Carl Hauptmann), „Schilflied“ (Nikolaus Lenau), „Die Nachtigall“ (Theodor Storm), „Traumgekrönt“ (Rainer Maria Rilke), „Im Zimmer“ (Johannes Schlaf), „Liebesode“ (Otto Erich Hartleben) und „Sommertage“ (Paul Hohenberg) gingen bei dieser höchst sensiblen Wiedergabe in geheimnisvoller Weise ineinander über. Und in weit ausladenden Kantilenen betonte die einfühlsame Sopranistin die dynamischen Steigerungen. So ergab sich ein faszinierendes klangliches Farbenspiel. Umkehrungen und andere Hexereien des Kontrapunkts ließen sich auch hier schon erahnen, obwohl diese Kompositionen noch sehr spätromantisch geprägt sind. Die Geburt des jeweiligen Themas wurde von Chen Reiss gesanglich in überaus kunstvoller Weise variiert.
Mit viel Liebe für klangliche Details interpretierte Vasily Petrenko zuletzt die Burleske in vier Bildern für Orchester „Petruschka“ von Igor Strawinsky. Das im Jahre 1911 entstandene Werk war kaum weniger erfolgreich als der „Feuervogel“. Die Handlung spielt im Milieu des großen Jahrmarktes von St. Petersburg. Ein raffinierter Gaukler zeigt drei Puppen: den russischen Hanswurst Petruschka, eine Ballerina und einen Mohren. Er zaubert diese Marionetten ins Leben und gibt ihnen menschliche Empfindungen und Leidenschaften. Petruschka verliebt sich in die Ballerina, die nur Interesse für den körperstarken Mohren hat. Der Mohr erschlägt schließlich aus Eifersucht den unglücklichen Petruschka. Die grellen und fast überspitzten Klänge dieser Musik wurden vom SWR Symphonieorchester unter der inspirierenden Leitung von Vasily Petrenko ausdrucksvoll betont. Volksweisen aus Russland und Leierkastenmelodien aus Frankreich spiegelten drastisch den Schauplatz und seine unverwechselbare Atmosphäre. Der schrille Klang eines einprägsamen, entfesselten russischen Tanzes entfaltete sich mit der Spannkraft seines unerbittlichen Rhythmus‘. Die automatenhaften Bewegungen Petruschkas wurden hier grotesk zwischen Tragik und Trivialität bloßgestellt. Das Intervall der übermäßigen Quart und die Grundtöne zweier Dur-Akkorde meisselte das Orchester eindringlich heraus. Und die themenbildende Kraft und der Reiz des Tritonus gewannen dabei eine immer größere Intensität. Auch der eingeblendete Walzer mit dem witzigen Zitat der Lanner-Meloden zeigte bei der Wiedergabe große Originalität. Das Thema der seelenlosen Ballerina blitzte auf. Und der Jahrmarktstrubel des Schlussteils wirkte umso ausgelassener. Bärenführer, Zigeuner und Maskierte gefielen aufgrund ihres Charakterisierungsreichtums.
Begeisterter Schlussapplaus, „Bravo“-Rufe.
Alexander Walther