Michael Sanderling dirigierte das SWR Symphonieorchester am 25. Januar 2019 im Beethovensaal der Liederhalle/STUTTGART
THEMEN VOLLER KRAFT
Die russisch gefärbten Themen des zweiten Klavierkonzerts in g-Moll op. 16 von Sergej Prokofjew gestaltete die russische Pianistin Anna Vinnitskaya mit enormer Kraftentfaltung und bestechender Klarheit. Die Virtuosität steigerte sich hier von Minute zu Minute, denn Michael Sanderling gelang es mit dem begleitenden SWR Symphonieorchester, die ungeheuerlichen Gewalten des Andantino wirkungsvoll zu beschwören. Auch das eingebaute Allegretto strahlte große Energie aus. Im Scherzo triumphierte die motorische Geläufigkeit von Anna Vinnitskaya, wobei sich das Intermezzo bei dieser fulminanten Wiedergabe an ein wuchtiges ostinates Bassmotiv klammerte. Ein spielerisch-zarter Mittelteil verdrängte hier eindrucksvoll die trauermarschartige Geste, die die Solistin ausdrucksstark betonte. Wie ein Gewitter entfaltete sich zuletzt das grandiose Finale, dessen wildes Feuer nicht nachließ. Ein russischer Volkstanz meldete sich dann im Mittelteil – und der Schluss stürmte strettahaft mit atemloser Wildheit vorüber. Als Zugabe spielte Anna Vinnitskaja noch fast sphärenhaft den Lyrischen Walzer aus Schostakowitschs „Tanz der Puppen“.
Nicht minder eindringlich war dann die Wiedergabe von Dmitrij Schostakowitschs Sinfonie Nr. 10 in e-Moll op. 93, wo Michael Sanderling mit dem SWR Symphonieorchester die Themen geheimnisvoll miteinander verknüpfte. Das kunstvoll komprimierte Material konnte sich so facettenreich entfalten. In den Bassmotiven des Moderato wurden die kommenden harmonischen Bildungen ausgezeichnet herausgearbeitet. Die Kraft der Durchführung stach leuchtkäftig hervor, und die melodische Intensität der Violinen ließ nicht nach. Schlicht stimmte die Klarinette ihr Lied an – und gerade die leisen Paukenwirbel besaßen hier eine unheimliche Kraft. Im ausgelassenen Tanzschritt des Dreivierteltaktes kamen die weiteren Themen daher. Ein reizvoll gestaltetes Flötenthema begleitete das Kopfmotiv. Dann ließ der Jubel nach – und die Reprise versank in das schemenhafte Dunkel der Bässe. Dem zweiten Satz liegt als Schreckensbild die Eröffnungsmelodie von Mussorgskys Oper „Boris Godunow“ zugrunde. Die Tritonus-Spannung dieses Satzes wurde bei dieser Interpretation bis zum Zerbersten ausgereizt, wobei die Wucht des Marsches auch noch bombastischer hätte sein können. Schostakowitsch identifizierte die Gestalt des wahnsinnigen Zaren Boris mit Stalin. Auch die schwungvolle Walzerfolge des dritten Satzes prägte sich bei dieser klangfarbenreichen Interpretation tief ein. Der Widerhall aus dem ersten Moderato wirkte hier ganz besonders nuancenreich. Schmetternde Trompeten beherrschten den rasanten Rhythmus, wobei es Sanderling mit dem SWR Symphonieorchester in besonders überzeugender Weise gelang, den Mittelteil nach dem Hornsolo in eine wiegende Bewegung aufzunehmen. Die Solovioline erinnerte nochmals subtil an die Walzerformen, während der spritzige Ton der Piccoloflöte hervorblitzte. Das Schluss-Allegro mit seinem einleitenden Andante gefiel dann mit gedämpfter Farbe und geheimnisvollen Holzbläsersoli über dem Streicheruntergrund. Das harmonische Material dieses Satzes wurde immer wirkungsvoller ausgebreitet. Das groteske Thema des Fagotts stach hier grell hervor. Die durchsichtige Harmonik vereinigte dabei gleichermaßen Volkstümlichkeit und Klassizismus. Und die monumentale Beschwörung des D erreichte zuletzt einen bemerkenswerten Siegestaumel.
Alexander Walther