Stuttgarter Philharmoniker beim ABO Sextett im Beethovensaal der Liederhalle am 23.1.2024/STUTTGART
Ferner Osten
„Es ist die Harmonie, die uns den Weg weist, nicht die Melodie“, sagte Jean Philippe Rameau, der am Hof Ludwigs XV. wirkte und heutezutage nur noch selten gespielt wird. Die Stuttgarter Philharmoniker musizierten bei den Auszügen aus dem Ballet heroique „Les Indes galantes“ von Rameau unter der einfühlsamen Leitung des Niederländers Jan Willem de Vriend mit Nonchalance und federnder Rhythmik. Die Schauplätze sind hier die Türkei, Peru, Persien und Nordamerika. Eine Hommage an den „fernen Osten“. In einem Prolog wird die Göttin der Liebe, Hebe, eingeführt. In Peru steht eine Prinzessin zwischen einem Inkapriester und einem Konquistador. Der Akt endet mit einem Vulkanausbruch. Und im persischen Akt geht es um die Eifersucht in adeligen Kreisen. In der Türkei hingegen widersteht die christliche Emilie den Avancen eines Paschas zugunsten ihres Liebhabers. Graziöse Eleganz und poetische Wahrhaftigkeit ragten hier leuchtend hervor. Die kernige Kraft melodischer Erfindung und die Klarheit der Harmonie blitzten auf. Vor allem die elektrisierend-explosive Rhythmik imponierte bei dieser ausgefeilten Interpetation.
Maria Ioudenitch: Copyright: Andrej Grilc
Anschließend musizierte die amerikanisch-russische Geigerin Maria Ioudenitch mit leidenschaftlicher Emphase und Virtuosität das Violinkonzert in D-Dur „Grosso mogul“ RV 208 von Antonio Vivaldi. Der Titel bezieht sich auf Muhammad Aurangzeb Alamgir, den bekanntesten Großmogul des indischen Reiches. Er beseitigte seine rivalisierenden Brüder und setzte den eigenen Vater gefangen. Orientalisch anmutende Tonfolgen fallen im verzierten Adagio auf, die Maria Ioudenitch mit großer Virtuosität interpretierte. Auch die Solokadenzen in den beiden Außensätzen leuchteten facettenreich hervor. Festliche Klangpracht, präzise Al-fresco-Wirkungen und vollendete formale Ausgeglichenheit machten sich in reizvoller Weise bemerkbar. Die Geigerin agierte mit chromatischem Feinschliff und klanglichem Glanz. Auch das selten zu hörende Konzertstück für Violine und Orchester D-Dur D 345 von Franz Schubert bestach in der subtilen Wiedergabe durch Maria Ioudenitch mit thematischem Reichtum und reifen Klangebenen. Gerade die Motive entfalteten sich mit einfühlsamer Leuchtkraft. Die Stuttgarter Philharmoniker hatten diesmal den Griechen Giannis Giannopoulos beauftragt, ein kurzes Ortchesterwerk zum Jubiläum zu schreiben. Er studiert zurzeit noch an der Musikhochschule Freiburg. Sein Orchesterwerk „Every day a letter / soon“ ist ein fragmentarisches Stück über Abwesenheit. Diese physische Entfernung bestimmte auch die subtile Wiedergabe unter Jan Willem de Vriend. Bläseransätze zeigten einen harmonisch vielschichtigen Umgang mit dem gesamten Klangapparat. Leider dürfen die jungen Komponisten nur „Minutenstücke“ komponieren. So ist eine thematische Entwicklung nur ansatzweise zu erkennen. Einen Zug zum Heroischen und Großartigen besitzt die Sinfonie Nr. 2 in C-Dur op. 61 von Robert Schumann, die die Stuttgarter Philharmoniker unter Jan Willem de Vriend mit Pathos und Schwung interpretierten. So wirkte das Kopfmotiv der Einleitung Sostenuto assai bedeutend, weil es den Grundton in der Ober- und Unterquinte magisch umkreiste. Doch das Hauptthema des Allegro ma non troppo zeigt sich fast ernüchternd schlicht. Dennoch kamen Ausbrüche und Höhepunkte nicht zu kurz. Das eigensinnige Scherzo Allegro vivace gelang den Stuttgarter Philharmonikern mit bestechender Leichtigkeit. Die Streicher huschten fast sphärenhaft dahin. Und die beiden Trios gefielen nicht nur mit anmutigen Holzbläser-Sequenzen. Das Adagio espressivo mit seiner träumerisch-innigen Melodie besaß betörende Intensität. Mit zarten Harmonien entpuppte es sich als wunderbares Nachtstück. Der letzte Satz strebte wieder ganz nach hohen Idealen. Der Gesang der Bratschen und Celli beeindruckte aufgrund seines Charakterisierungsreichtums – und es verbreitete sich eine erschütternde Stimmung des Verzichts, die nicht mehr weichen wollte. Schumanns psychische Erkrankung blieb bei dieser Interpretation spürbar, minderte aber die Wirkung nicht. Das Kopfthema der Einleitung führte unter gewaltigem Paukeneinsatz zu einem triumphalen Schluss.
Begeisterter Schlussapplaus für die Stuttgarter Philharmoniker unter Jan Willem de Vriend, der als „Glücksfall aus den Niederlanden“ gilt.
Alexander Walther