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STUTTGART/ Liederhalle: RSO SINFONIEORCHESTER STUTTGART/ Sanderling/ Fischer

24.07.2015 | Konzert/Liederabende

WILDE RHYTHMISCHE BEWEGUNGSKRÄFTE

Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR am 23. Juli 2015 im Beethovensaal der Liederhalle/STUTTGART

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Julia Fischer. Foto: DECCA/ Felix Broede

Ja, ein begnadeter Filmkomponist ist John Adams in jedem Fall. Sein von visuellen Sequenzen inspiriertes rhythmisches Meisterstück „Lollapalooza“ schildert die Situation der sich nach Freiheit sehnenden Fabrikanten-Ehefrau Emma, die vollkommen unerwartet den Kochkünstler Antonio sieht und ihm folgt. Das 1995 entstandene Orchesterstück ist eine brillant instrumentierte Partitur, die der Dirigent Michael Sanderling mit dem vor allem rhythmisch exzellent musizierenden Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR gut auslotet. Die sich gegenseitig überlagernden Motive werden hier facettenreich von zahlreichen Schlaginstrumenten begleitet, die sich zu einem Furioso bis zum letzten gewaltigen Paukenschlag steigern. Das fünftönige Motiv in Posaunen und Tuba gewinnt ebenfalls immer mehr Präsenz, die Michael Sanderling mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR expressiv auslotet. „Lollapalooza“ entstand übrigens als Geschenk zum 40. Geburtstag von Simon Rattle, mit dem John Adams befreundet ist. Der Titel bezeichnet etwas Großes, Überwältigendes – der innere Rhythmus setzt sich immer konsequenter und erschütternder durch. Da gibt es zuletzt kein Halten mehr. Die „idee fixe“in den Posaunen und der Tuba zeigt sich konsequent in den Tönen c-c-c-es-c mit einem Schwerpunkt auf dem es. Der Ruf der Hörner und Posaunen entwickelt sich zu einem beeindruckenden Klangkosmos. Alle Harmonien scheinen völlig entfesselt auf einen unerklärlichen Fixpunkt zuzustürmen. Dem sowjetischen Geiger David Oistrach hat Aram Chatschaturjan sein Konzert für Violine und Orchester aus dem Jahre 1940 gewidmet. In der Haltung der drei Sätze fällt die makellose Glätte der Form auf und eine gewisse Neigung zu romantischen Vorbildern wie Dvorak oder Tschaikowsky.

Die höchst erfolgreiche und souveräne junge Geigerin und Professorin Julia Fischer lotet genau diese wichtigen Aspekte bei ihrer meisterhaften Interpretation dieses anspruchsvollen Werkes aus. In Michael Sanderling und dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR hat sie einfühlsame Anwälte und Begleiter, die ihr immer wieder genügend melodischen Freiraum lassen. Elegant und weniger wuchtig als beim Klavierkonzert von Chatschaturjan kommt es hier bei dieser gelungenen Interpretation häufig zu elektrisierenden Funken, die der kühnen Harmonik gerecht werden. Wie sicher Chatschaturjan seine Musik aus dem Wesen der Geige heraus erfunden und geprägt hat, macht Julia Fischer ebenfalls in bewegender Weise deutlich. Denn das Instrument lebt bei ihrer konzentrierten Wiedergabe immer wieder neu auf, der melodische Gesang erreicht die Zuhörer unmittelbar. Das merkt man sogleich beim ersten Satz Allegro con fermezza, wo sich das unbeirrbar vorwärtstreibende motorische Hauptthema der Solistin energisch meldet. Eine überraschende Unerschöpflichkeit setzt sich beim Spiel Julia Fischers durch, wenn sich das zweite Thema als armenische Melodie im Stil Tschaikowskys vorstellt. Konsequent gestaltet Michael Sanderling mit dem Orchester auch die Durchführung mit dem ersten und zweiten Thema. Nach Kadenz und Reprise gewinnt hier das erste Thema wieder Boden, wenn die Coda zur imposanten Schlusssteigerung ansetzt. Auch den elegisch angehauchten Walzer des Andante sostenuto trifft Julia Fischer höchst sensibel, die elegant-morbide Blässe wird dabei nicht übermäßig betont. Kraft und Farbe beherrschen die Interpretation. Im Finale Allegro vivace erkennt man schnell ein schlackenfreies Rondothema, das auf Hochglanz poliert ist. Haydn und Prokofieffs „Sinfonie classique“ lassen grüßen. Das ausgedehnte Zwischenspiel nach der zweiten Rondo-Episode besitzt mit seiner breiten Melodie innere Glut. Eine gefühlvollere Kantilene bildet dank Julia Fischers Musizierstil einen feinen Kontrast zum energischen Fanfarenmotiv und den glitzernden Umspielungen. In glitzernden Kaskaden wird sogar das Hauptthema des ersten Satzes aufgegriffen. Als Zugabe spielte Julia Fischer noch die dämonisch angehauchte Caprice Nr. 24 von Niccolo Paganini mit unheimlichen Pizzicati. Zuletzt überzeugt das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR das Publikum noch mit Peter Tschaikowskys Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36, wo die knalligen Effekte durch den Dirigenten Michael Sanderling nicht allzu effekthascherisch betont werden. Tschaikowsky widmete das Werk 1877 seiner Gönnerin Frau von Meck, die er kennenlernte, als die Tragödie seiner Ehe offenbar wurde. Der Reichtum an melodischen, pathetischen und dramatischen Eingebungen tritt bei dieser Interpretation mit Michael Sanderling und dem Radio-Sinfoneiorchester Stuttgart des SWR gleich im ersten Satz ausdrucksvoll hervor. Die Schicksalsgewalt der niederstürzenden Bläser geht so unter die Haut der Zuhörer. Daneben fällt die zarte Vision im Orchester auf. Sehr gut gelungen sind auch die dahingleitenden Läufe der Holzbläser. Eine andere Phase der Sehnsucht zeigt sich dann im zweiten Satz mit seinem ausgesprochen melancholischen Gefühl. Der F-Dur-Kontrast des Mittelteils tritt so leuchtend hervor. Wehmütig fällt die achttaktige Achtelmelodie des Mittelteils auf, den Michael Sanderling mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR genau trifft. Das F-Dur-Scherzo zeigt dann die Reize seiner Pizzicato-Folge. Auf die wilde Jagd dieser gezupften Töne folgt das von Bläsern und Pauken beherrschte Trio. Sanderling beweist auch hier sein besonderes Gespür für reizvolle Kontraste. Auffallend ist bei dieser ausgefeilten Interpretation das Hörner-Ostinato der russischen Volksmelodie in den Holzbläsern. Alles mündet hier in eine wahrhaft orgiastisch musizierte Coda. Tschaikowsky selbst sagt über diesen Satz: „Und das Leben ist doch zu ertragen!“ Und er ergänzt: „Mehr, teure Freundin, vermag ich Ihnen über diese Sinfonie nicht zu sagen…“ Und so interpretiert Michael Sanderling mit dem Orchester dieses Werk auch: Überaus leidenschaftlich, voller Lebensbejahung, spieltechnisch brillant. Zum Glück bleibt die Wiedergabe nicht an der Oberfläche. Beim Ergründen tiefer seelischer Abgründe könnte sich diese Interpretation auch noch steigern.

 Alexander Walther

 

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