Mahlers sechste Sinfonie mit dem Staatsorchester Stuttgart am 21.5.2023 in der Liederhalle/STUTTGART
Leidenschaftliches Aufbegehren
Gustav Mahlers sechste Sinfonie in a-Moll („Tragische“), die im Jahre 1904 vollendet wurde, entstand in einer Zeit familiären Glücks und großer Erfolge als Operndirektor der Wiener Hofoper. Sie wirkt aber auch wie eine beklemmende Vorahnung des Schicksals, denn 1907 starb seine ältere Tochter. Der italienische Dirigent Nicola Luisotti (er war auch musikalischer Leiter der San Francisco Opera) betonte bei der Interpretation dieses besonderes Werkes den spätromantischen Aspekt, ohne wichtige Details aus den Augen zu verlieren. Der erste Satz riss als zündender Marsch die Zuhörer sofort mit, Mahler erschien hier als ruhelos suchender Wanderer. Das Thema löste sich mit starker Energie, schnellte hoch und endete in einem Trompetenakkord, der von Dur nach Moll absank. Dieses wiederkehrende Klangsymbol besaß bei dieser Wiedergabe gleichzeitig eine unheimliche Klarheit und Leuchtkraft. Der tragische Schluss wurde hier vorweggenommen. Und das Staatsorchester Stuttgart musizierte unter Nicola Luisotti mit glühender Emphase und Intensität. Die fahle Resignation des Unterliegens trat grell hervor. Ein Choral und ein schwungvolles zweites Thema weckte dann die Lebensgeister, die sich nicht mehr bändigen ließen. Diese Exposition wurde bedeutsam wiederholt, alles Lastende überwunden. Klangwunder und Entrückungsvisionen lebten im zweiten Andante-Satz mit einfühlsamer Bewegung auf. Das Es-Dur-Thema erinnerte an die Kindertotenlieder. Und das wuchtig interpretierte Scherzo besaß dann etwas Unheimlich-Phantastisches. Über Paukenschlägen hob ein plumper Tanz an und prallte auf das Dur-Moll-Thema aus dem ersten Satz. Altväterliche Grazie wurde von Nicola Luisotti hier nicht übermäßig oder störend betont. Nach einer klanglichen Verdüsterung des Bildes drohte der Schluss mit einer dunklen Frage. Bei dieser Aufführung gab dann das Finale mit 822 Takten eine wirklich grandiose Antwort, wobei das Staatsorchester Stuttgart das leidenschaftliche Aufbegehren in hervorragender Weise herausarbeitete. Vermieden wurden betonbreite Tempi wie bei Sir John Barbirolli, Luisotti bevorzugte einen zügig-atemlosen Rhythmus. Als weiträumiger Sonatensatz konnte er sich immer deutlicher entfalten. Schon die „Sostenuto“-Einleitung bot ungeheure Kräfte auf. Mit den Choralklängen verbanden sich dann dunkle Energien. Und aus den vorangegangenen Sätzen hallten die Themen in unheimlicher Weise nach. Marschthemen drängten sich heftig vorwärts. Nach dem Aufschwung der verheißungsvollen Melodie fiel der gewaltige Hammerschlag, auf dessen symbolische Bedeutung Paul Bekker hinwies. Luisotti gelang es, die emotionalen Wogen zu glätten und auch die Streicher zu einem immer glutvolleren und deutlicheren Unisono-Spiel anzuleiten. Dann vernichtete der nächste Hammerschlag alle Zuversicht. Und nach dem dritten, schwächeren Hammerschlag sank alle Hoffnung nieder. Fast elegisch meldeten sich abschließend die Hörner mit einem ergreifend musizierten Trauerthema. Bei diesem Konzert wurde jedenfalls deutlich, dass die „Sechste“ Mahlers persönlichstes Werk ist, worauf auch seine Frau Alma hinwies. Jubel, großer Schlussapplaus.
Alexander Walther