Hochschulsinfonieorchester der Stuttgarter Musikhochschule am 18.5.2024 in der Liederhalle/STUTTGART
Packend und kontrastreich
Dmitri Schostakowitsch zog seine vierte Sinfonie nach der Hauptprobe in der Leningrader Philharmonie zurück. Er war damals Anfeindungen als „Formalist“ ausgesetzt, die vor allem von Stalin ausgingen. Im Janur 1936 begann die Hetzkampagne gegen Schostakowitsch, den Startschuss gab der „Prawda“-Artikel „Chaos statt Musik“. Erst 1961, acht Jahre nach Stalins Tod, konnte dieses Werk schließlich in Moskau erklingen.
Unter der elektrisierenden Leitung von Rasmus Baumann bot das Hochschulsinfonieorchester der Stuttgarter Musikhochschule in der Liederhalle eine hervorragende Leistung. Die vierte Sinfonie in c-Moll op. 43 kann als die fortschrittlichste Sinfonie Schostakowitschs bezeichnet werden. Der von Mahler beeinflusste russische Expressionismus trat hier deutlich hervor. Harmonische Kühnheiten und rhythmische Raffinessen arbeiteten die mit großer Leidenschaft musizierenden jungen Musiker sehr gut heraus. Der letzte Satz dieser Sinfonie wurde unter dem Eindruck größter Bedrohung vollendet. Düstere Tragik vermischt sich dabei mit traumhaften Sequenzen aus Revue- und Stummfilmmusik, was bei der konzentrierten Wiedergabe ausgezeichnet zur Geltung kam. Man hört hier auch ein Zitat aus der Revue „Der bedingt Ermordete“ aus dem Jahre 1931. Außerdem erklingt ein Fragment aus seiner unvollendeten Oper über eine revolutionäre Bewegung aus dem 19. Jahrhundert („Der Wille des Volkes“). Der Trauermarsch aus dem Finale erinnerte in dieser bewegenden Interpretation auch an Schostakowitschs Oper „Lady Macbeth“. Das Spiel des Hochschulorchesters war an diesem Abend von intensiv-dramatischem Leben erfüllt, das sich immer mehr zuspitzte. Die kühne Thematik stach immer wieder in imponierender Weise hervor, so ließ die Spannung keinen Augenblick nach. Klangliche Ballungen und ungeheure Steigerungen folgten. Die in weiten Intervallen geführte Melodik, die herbe und scharfe Harmonik sowie abrupte Modulationen wurden dabei minuziös und präzis herausgearbeitet. Bombastische Passagen behaupteten sich neben fast satirisch-überspitzten Sequenzen und kunstvollen figurativen Einschüben. Dynamische Kontraste gingen unter die Haut, fesselten die Zuhörer. Auch Tremolo- und Pizzicato-Passagen wurden feinnervig ausgekostet. Die Leuchtkraft der orchestralen Farben war dabei bemerkenswert. Und auch die an Gustav Mahler gemahnende Al-fresco-Technik wurde unter der inspirierenden Leitung von Rasmus Baumann sehr plastisch herausgearbeitet. Die überlegene Beherrschung der Form und des polyfonen Satzes erinnerte bei dieser Wiedergabe zudem an Strawinsky und Prokofieff. Seine technische Sicherheit lernte Schostakowitsch in der Rimskij-Korssakoff-Schule des Petersburger Konservatoriums. Manchmal herrscht sogar ein konservativer Zug in der Harmonik vor, was das Hochschulsinfonieorchester bei einigen Details unterstrich.
Am Ende gab es Begeisterung und großen Jubel für eine überaus packende Interpretation im Beethovensaal. Hochschulrektor Axel Köhler sprach ein Grußwort. Seit dem Wintersemester 2018/19 leitet Baumann als Professor das Hochschulorchester und die Dirigierklasse der Musikhochschule in Stuttgart.
Alexander Walther