STUTTGART/ Liederhalle: 5. Staatsorchesterkonzert im Beethovensaal der Liederhalle am 15.4.2019
EINE IMAGINÄRE REISE
Das Radio zieht in Salvatore Sciarrinos „Efebo con radio“ (1981) für Stimme und Orchester einen kleinen Jungen in seinen Bann. Vielfältige Kanäle verursachen hier ein mysteriöses Rauschen, das die ausgezeichnete Altistin Stine Marie Fischer mit strahlkräftigen Intervallspannungen noch befeuert. Anklänge an Ravels „La Valse“ und Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ verleihen dieser Musik etwas Überirdisches und Rauschhaftes. Es vollzieht sich dabei ein effektvoller Blick auf den Klang des Italiens der Fünfzigerjahre. Der 1988 in Teheran geborene Dirigent Hossein Pishkar mischt dieses trügerische Kindheitsidyll allerdings deutlich mit Visionen von Angst und totaler Überwältigung. Aber auch der schwungvolle Humor kommt hier nicht zu kurz. So entsteht zwischen Sängerin und Dirigent sogar ein witziger Dialog. „Audiodrome – Dead City Radio“ nennt Fausto Romitelli sein diffiziles Stück für Orchester, das auf dem Einfall einer fiktiven Radioübertragung beruht. Hossein Pishkar stellt das Hauptthema aus der „Alpensinfonie“ von Richard Strauss dabei in geheimnisvoller Weise heraus. Dieses Thema gerät dann in unheimlicher Weise in den Sog eines gewaltigen Strudels. Das Klangbild wird in raffinierter Art verzerrt und entstellt. Fremde Klangtexte und sinnentleerte Wiederholungen beherrschen das harmonische Gerüst bemerkenswert. Es kommt zu gewaltigen Blechbläser-Eruptionen. E-Gitarre und Synthesizer sorgen für weitere irritierende Verfremdungseffekte. Der Klangraum weitet sich ins wahrhaft Monströse aus.
Das Staatsorchester Stuttgart musiziert die vierte Sinfonie B-Dur op. 60 von Ludwig van Beethoven unter der inspirierenden Leitung des iranischen Dirigenten Hossein Pishkar wie aus einem Guss. Mit tatkräftiger Energie vereint sich hier ausgelassener Schwung. Die bestechenden geistvollen Einzelheiten der thematischen Einheit blitzen klar hervor. Das zeigt sich sogleich bei der geheimnisvollen Adagio-Einleitung, aus deren erregender Spannung das Hauptthema leuchtkräftig hervortritt. Kaum zu bändigen ist der Übermut, mit dem sich dieses Thema bei der Wiedergabe durchsetzen kann. Aber auch besinnlichere Momente kommen bei dieser konzentrierten Interpretation keineswegs zu kurz. Der Sonatensatz behauptet sich mit ungestümer Energie und großer harmonischer Kraft. Eine Melodie voller träumerischer Vergangenheit arbeitet der umsichtige Dirigent Hossein Pishkar mit dem ausgezeichneten Staatsorchester Stuttgart geradezu visionär heraus. Die abgewandelte Umkehrung in der Klarinette blitzt brillant hervor. Zwischen Dur und Moll kann sich das Lied intensiv durchsetzen. Beim ausgelassenen Allegro vivace ist Hossein Pishkar dann ganz in seinem Element, denn dessen feuriges Kopfthema besitzt bei dieser Wiedergabe klare Konturen. Besinnlichere Töne schlagen dann die Holzbläser im Trio an. Schelmisch antworten darauf die Geigen. Und die knisternden Streicherfiguren des Finales reissen die Zuhörer hier geradezu mit. Da besitzen auch die Paukeneinsätze einen wunderbar elektrisierenden Biss und wuchtige Schlagkraft. Das alles erinnert bei dieser Wiedergabe auch etwas an Mozart. Es kommt zu zahlreichen dynamischen und harmonischen Eigenwilligkeiten und facettenreichen Überraschungen, die die spieltechnischen Vorzüge des Staatsorchesters Stuttgart einmal mehr beweisen. Als sich bei den Akkorden eine Hürde aufbaut, stockt auch der thematische Ablauf jäh. Diese strukturellen Besonderheiten der Partitur erfasst Hossein Pishkar ganz hervorragend. Bis in die Schlusstakte hinein reissen die Finten nicht ab.
Die Zauberkunststücke dieser Beethoven-Partitur aus dem Jahre 1806 überwältigten das Publikum im Beethovensaal. Es honorierte diese Wiedergabe mit „Bravo“-Rufen.
Alexander Walther