4. Kammerkonzert im Mozartsaal der Liederhalle Stuttgart
VIELE LAUTMALERISCHE KLÄNGE
4. Kammerkonzert des Staatsorchesters Stuttgart im Mozartsaal der Liederhalle/STUTTGART Erinnern und Vergessen standen im Mittelpunkt dieses Kammerkonzerts des Staatsorchesters Stuttgart. Stark von der Kindheit geprägt sind die kompositorisch ausgesprochen einfallsreichen „Impressions d’enfance“ für Violine und Klavier des Rumänen George Enescu. Hier wird osteuropäische Volksmusik in melancholischer Weise aufgegriffen. Tempowechsel und Triller wechselten sich in reizvoller Weise ab, was die hervorragende Geigerin Muriel Bardon und Yujin Bae (Klavier) eindringlich beschworen. Müde Glissandi beschrieben hier den Gang eines alten Bettlers, während der Bach zu sanften Kaskaden und Arabesken dahinplätscherte. Das Zirpen der Grille erschien in hohen Wechselnoten der Violine – und der Wind meldete sich in aufregenden Auf- und Abbewegungen. Die geradezu polyphone Verbindung der einzelnen Motive wurde vom Ensemble exzellent herausgearbeitet. Eindrucksvoll wirkte auch die seriell geprägte Komposition „Quasi Hoquetus“ von Sofia Gubaidulina, wo zwei Stimmen so miteinander verschränkt werden, dass sie sich geradezu ideal ergänzen. Jan Melichar (Viola), Sebastian Mangold (Fagott) und Christopher Schumann (Klavier) beschrieben die Choralklänge mit ergreifender Intensität. Toccata-Passagen erreichten hier eine beunruhigende rhyrthmische Kraft. „
Die arme Seele“ nach einem alten Schweizer Voksliede aus den Geistlichen Liedern op. 20 des in Auschwitz ermordeten Komponisten Viktor Ullmann hinterließ einen erschütternden Eindruck. Hier wird von einer armen Sünderseele erzählt, die zaghaft an die Himmelstür tritt. Gott nimmt sie ins Paradies auf. Die Sopranistin Josefin Feiler ließ ihre Kantilenen dabei mit berührender Leuchtkraft erklingen. Intensive Wiederholungen und fast sphärenhafte Passagen sowie ein Abstieg in tiefere Register ließen diese „arme Seele“ schließlich mit wunderbarer klanglicher Balance zur Ruhe kommen. Dafür sorgten auch Evgeny Popov (Violine), Jan Melichar (Viola), Michael Rathgeber (Klarinette), Stefan Koch-Roos (Kontrabass) und Klaus F. Müller (Akkordeon), die sich rein klanglich in fabelhafter Weise ergänzten. In dieser reizvollen Bearbeitung für Sopran und Ensemble von Uli Fussenegger konnten sich die klanglichen Qualitäten dieses Werkes voll entfalten. Auch der zweite Poco-lento-Satz aus dem dritten Streichquartett von Szymon Laks (Bearbeitung: Uli Fussenegger) verarbeitet traumatische Erinnerungen an dessen Inhaftierungen in Dachau und Auschwitz. Die Violine beschreibt hier das Lied „Pass auf, Mütterchen, wem du deine Tochter gibst“. Zu diesem Klagelied erklang schwermütig in der Viola ein fahl tönender Marsch. Auch volksliedhafte Anklänge hinterließen starke Eindrücke. Evgeny Popov (Violine), Jan Melichar (Viola), Michael Rathgeber (Klarinette), Stefan Koch-Roos (Kontrabass) und Klaus F. Müller (Akkordeon) ließen das harmonisch aufwühlende Geschehen facettenreich Revue
Erinnerungen stehen ebenfalls bei „S.K. Remembrance Noise“ op. 12 nach Gedichten von Dezsö Tandori für Violine und Sopran von György Kurtag im Zentrum, wo die hervorragende Sopranistin Josefin Feiler zusammen mit Muriel Bardon (Violine) diesen reizvollen Miniaturen in ergreifender Weise zum Leben erweckte. Bestimmte Ausdrucksqualitäten kamen dabei auf der Violine in eindringlicher Weise zu Gehör. In der „Straße nach Damaskus“ stieg die Melodie in die Höhe. Disparate Klangkulissen standen sich auch bei „Die Traurigkeit der nackten Kopula“ sowie in „Kant Erinnerungsgeräusch“ kontrastreich gegenüber. Carlos Gardel galt als der erfolgreichste Tangosänger des frühen 20. Jahrhunderts. Im Jahre 1934 schrieb der Dichter Alfredo La Pera den Text für den klassischen Tango „Volver“ („Wiederkehren“), den er dem begabten Komponisten Carlos Gardel widmete. Hier wird der Verzweiflung entgegengetanzt. Das lyrische Ich kann sich jedoch in bewegender Weise behaupten. Gardel und Le Pera kamen übrigens bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Josefin Feiler (Stimme), Evgeny Popov (Violine), Klaus F. Müller (Bandoneon), Stefan Koch-Roos (Kontrabass) und Christopher Schumann (Klavier) waren die ausgezeichneten Solisten dieser Hommage an erotische Leidenschaft und feurige Rhythmen. Von Astor Piazzolla erklang zuletzt „Oblivion„, dessen Kontrapunkt und Fugenform in reizvoller Weise hervorstachen. Igor Strawinsky und Bela Bartok ließen grüßen. Evgeny Popov (Violine), Klaus F. Müller (Bandoneon), Stefan Koch-Roos (Kontrabass) und Christopher Schumann (Klavier) ließen die sphärenhafte Melancholie über den Streicherklängen in geheimnisvoller Weise aufblühen. Piazzolla schrieb dieses Werk übrigens 1984 für den Film „Heinrich IV.“ des italienischen Regisseurs Marco Bellocchio: Ein junger Mann fällt bei einem mittelalterlichen Kostümfest als Heinrich IV. verkleidet vom Pferd. Danach ist er davon überzeugt, dass er dieser König sei und zieht sich zwanzig Jahre lang auf ein Schloss zurück. So lebte denn auch diese Wiedergabe von märchenhaftem Klangzauber.
Alexander Walther