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STUTTGART/ Liederhalle: 3. STAATSORCHESTERKONZERT unter Jonathan Nott

Brüche, Schnitte, Sprünge

10.12.2019 | Konzert/Liederabende

Drittes Staatsorchesterkonzert am 9.12.2019 in der Liederhalle/STUTTGART

Brüche, Schnitte, Sprünge

 Diesmal lautete das Motto „Geschichtete Zeit“. Unter der kompetenten und leidenschaftlichen Leitung des britischen Dirigenten Jonathan Nott konnte das Staatsorchester Stuttgart gleich zu Beginn bei Isabel Mundrys Orchesterwerk „Endless Sediments“ überzeugen. Hier verändern sich sprunghaft die Motive, es ist eine Musik ohne Bauplan, die die Zuhörer aber ungemein fesselt. Neben Tremolo-Sequenzen vernimmt man hier auch Knistern und Papierrascheln. Ausgehend von einem gregorianischen Choral entdeckt Mundry dabei eine ungemein aufregende Klanglandschaft, in der noch keine Notenschrift existierte und Erinnerung Teil des Kompositionsprozesses war. Orchesterschichten entwickeln sich so in spannender Weise nebeneinander. Polyphone Rhythmen beherrschen die Klangentwicklung, was Jonathan Nott mit dem vorbildlich musizierenden Staatsorchester Stuttgart überzeugend verdeutlichte. Und die lineare Akkordfolge von Ruf und Gegenruf erzeugte elektrisierende Echo-Wirkungen. Der erste Satz besteht aus elf Viertelnoten, die sich kunstvoll übereinanderschichten. Im zweiten Satz entfaltet sich das Motiv ganz linear und konsequent, während der dritte Satz auf dem Ruf- und Gegenruf-Konzept beruht. Das Staatsorchester Stuttgart machte unter Jonathan Notts kundiger Leitung den organischen Aufbau dieser Komposition sehr gut deutlich.

Kirill Gerstein (Klavier) war dann der glanzvolle Solist der immens schwierigen „Burleske für Klavier und Orchester“ von Richard Strauss, wo Liszt und Wagner hervorschimmern. Das Klavier strengt sich hier zwar mächtig an, doch Gerstein agierte bei den Kaskaden und Arabesken ebenso virtuos wie brillant. Die chromatischen Akkordskalen sprudelten bei dieser leuchtkräftigen Wiedergabe nur so hervor. Im Rahmen der Sonatenhauptsatzform setzte sich die Pauke mit bombastischer Kraft durch und spornte das Klavier immer wieder neu an. Dynamische Energien konnten sich so ausgezeichnet entwickeln. Der Widmungsträger Hans von Bülow hatte dieses Werk des jugendlichen Richard Strauss wegen Unspielbarkeit einst abgelehnt, weil der Klavierpart ständig neue Handstellungen verlangt. Eugen d’Albert sorgte schließlich für die Uraufführung. Das viertaktige Hauptthema des Werkes wurde vom Staatsorchester Stuttgart unter Jonathan Nott sehr markant herausgearbeitet. Als Zugabe interpretierte Kirill Gerstein noch einen feurig musizierten „Ungarischen Geschwindmarsch“ von Franz Liszt.

Zum Abschluss triumphierte das Staatsorchester Stuttgart unter Jonathan Nott gleichsam mit einer grandiosen Wiedergabe von Dimitri Schostakowitschs vierter Sinfonie c-Moll op. 43, die bei Stalin einst in Ungnade gefallen war. Vieles erinnert hier an den begabten Filmkomponisten Schostakowitsch, der immer wieder mit Brüchen, Schnitten und Sprüngen arbeitete. Eine atemlos-rasante Fuge und eine gedehnte Coda beherrschten die riesenhafte Orchesterlandschaft, die sich immer weiter auszudehnen schien. Bassklarinette, Harfe, Piccoloflöte und Bässe musizierten hier teilweise mit Ironie um die Wette. Auch die Glissando- und Tremolo-Passagen wurden hervorragend  herausgearbeitet. Die Aggressivität und Fortschrittlichkeit dieser Partitur erfasste Jonathan Nott in exzellenter Weise. Der russische Expressionismus kam dabei deutlich von Gustav Mahler her. Harmonische Kühnheiten und ungeheure rhythmische Raffinessen wechselten sich in atemberaubender Weise ab. Und auch der geheimnisvolle Achtelpuls mit Harfe kam nicht zu kurz. Wie bei filmischem Material schichten sich die zahlreichen Kontraste in diesem Werk kunstvoll übereinander. Im Moderato con moto stachen die ausdrucksvollen Bratschen hervor, während der letzte Largo-Allegro-Satz durch seinen Fagott-Klagegesang besonders eindringlich auffiel. Die gewaltigen Dur-Explosionen am Schluss wirkten wie ungeheure Vulkan-Ausbrüche, die Jonathan Nott mit Akribie zügelte. Dann fiel der gesamte Satz wieder ins Nichts. Nach dieser erschütternden Wiedergabe spendete das begeisterte Publikum Ovationen.

 

Alexander Walther

 

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