Zweites Sinfoniekonzert des Staatsorchester Stuttgart „Kunst und Leben“ am 20. November 2017 im Beethovensaal der Liederhalle/Stuttgart.
FIEBER UND GLUT
Im Rahmen des 425jährigen Jubiläums des Staatsorchesters Stuttgart gastierte der französische Dirigent Bertrand de Billy und dirigierte zunächst die sinfonische Dichtung „Orpheus“ von Franz Liszt. Es entstand ein ergriffener Hymnus auf Macht und Wesen der Musik, deren elementarste göttliche Offenbarung für Liszt Orpheus war, der Sänger im sternbesäten Mantel. Dieser Hymnus erklang hier aus mythischer Ferne mit sphärenhaften Harfenklängen. Immer begeisterter schwoll das harmonische Gefüge bis zu höchster Kraft an. Dann brach der bekenntnishafte Lobgesang plötzlich ab und verklang wie in mythischer Ferne umso geheimnisvoller. Selbst Anklänge an Wagners „Lohengrin“-Vorspiel waren bei dieser dezenten Wiedergabe herauszuhören.
Danach interpretierte der begnadete Bratschist Nils Mönkemeyer das Konzert für Viola und Orchester aus dem Jahre 1948 von Bela Bartok, der bei dieser Interpretation wie ein ergreifender Schwanengesang wirkte, weil Mönkemeyers seelenvolles Spiel die Zuhörer ungemein faszinierte. Abgeklärte Harmonik herrschte vor, der lyrische Charakter des Werkes zeigte sich im Kopfmotiv der Solobratsche. Schärfere Umrisse brachte dann das Staatsorchester Stuttgart unter Bertrand de Billys Leitung, wobei der Solist nie zurückgedrängt wurde. Auch bei seinem zweiten Thema schwang etwas Unwägbares mit. Immer energischer musizierte Nils Mönkemeyer hier. Mit Hilfe eines ruhigen Seitengedankens verschaffte die Bratsche dem Hauptthema wieder starkes Gewicht. Umkehrung und Kadenz wirkten wie aus einem Guss musiziert. Die Reprise mit dem schärfer gefassten Kopfmotiv behauptete sich dabei mit eherner Macht, es kam nach der Exposition zum packenden Höhepunkt. Bei der immer leiser niedersinkenden Coda war Nils Mönkemeyer in seinem Element. Im zweiten Satz überwältigte die innige Melodie der Bratsche, Heimweh sprach in ergreifender Weise aus dieser Passage. Nach schmerzlichen Zwischenrufen meldete sich das Kopfthema des ersten Satzes, Hörner und Trompeten setzten höchst resolut ein neues Thema fest. Und die Bratsche triumphierte wild mit dem rhythmisch ausgereiften Rondothema, das immer ausgelassener wurde. Nach dem Einsatz der Oboen entwickelte sich ein rasantes Fugato. Alle Kräfte wurden für das Finale mobilisiert, es kam zum überwältigenden Zusammenspiel von Bratschist und Staatsorchester. Cymbalklänge und Paukenwirbel sorgten letztendlich für ein atemberaubendes Tumultuoso. Das „Konzert für Orchester“ sowie das dritte Klavierkonzert von Bartok ließen grüßen. Als Zugabe präsentierte Nils Mönkemeyer noch die rhythmisch fein akzentuierte Sarabande aus der zweiten Suite in d-Moll von Johann Sebastian Bach.
Zuletzt erklang die berühmte „Symphonie fantastique“ op. 14 von Hector Berlioz, die 1842 von der Stuttgarter Hofkapelle erstmals zur deutschen Erstaufführung gebracht wurde. Und Berlioz lobte bei seinem Stuttgart-Besuch gerade dieses Orchester: „Die Ausbildung seiner Musiker ist in jeder Hinsicht vollkommen. Ich war maßlos erstaunt!“ Hier hat ein junger empfindsam-fantasievoller Künstler aus unglücklicher Liebe Opium genommen und wird von Träumen und Visionen verfolgt, die um die Geliebte kreisen. Berlioz‘ unglückliche Affäre mit der englischen Schauspielerin Harriet Smithson war der Auslöser dieser revolutionären Komposition. Bertrand de Billy bot mit dem Staatsorchester Stuttgart eine kluge und harmonisch differenzierte Wiedergabe. Das Thema des ersten Satzes charakterisierte eine schöne und keusche Frau facettenreich. Der zweite Satz als rauschende Ballnacht wurde ebenfalls ausgezeichnet getroffen, irisierend-sphärenhafte Streicherklänge hüllten das Publikum wie in rauschenden Nebel ein. Der duftig-elegante Walzer entfaltete hier seinen ganzen Zauber. Die idee fixe erschien dann im dritten Satz wiederum suggestiv als „Szene auf dem Lande“. Der Künstler hat sich hier hörbar in die Natur geflüchtet und wird von Englischhorn und Oboe in geheimnisvoller Weise begleitet. Das Bild der Geliebten tauchte rasch auf, ein Gewitter meldete sich unheilsschwanger. Bertrand de Billy beschwor kongenial dieses Naturgemälde mit psychologischem Hintersinn. Als makabres Scherzo kam der „Gang zum Hochgericht“ daher, wo der Künstler träumt, dass er seine untreue Geliebte ermordet hat. Dann wird er zum Richtplatz geführt und wohnt seiner eigenen Hinrichtung bei. Grausig-düster hob bei dieser fieberhaften Interpretation der Marsch an, begleitet vom Gejohle der Gaffer, fast feierlich-schrecklich schwoll der monotone Marschklang an, bis die Guillotine erreicht war. Dann sauste das Fallbeil nieder im Wirbel von Pauken und Trompeten.
Ein absoluter Höhepunkt war der fünfte Satz, wo das Staatsorchester Stuttgart beim „Hexensabbat“ ganz aus sich herausging und ein rasantes harmonisches Feuer abbrannte. Als Hexe erschien hier auch die Geliebte, begrüßt von der unheimlichen Gesellschaft. Sterbegeläute ertönte, das feierliche „Dies irae“ mischte sich ein. Bertrand de Billy verlor hier nie die klangliche Kontrolle. Ächzen, gellendes Lachen und fernes Schreien vereinten sich zu einem schaurigen Klangkosmos, dessen Intensität immer mehr zunahm. Es war eine überaus spannungsvolle Wiedergabe. Und der Allegro-Teil eröffnete das Thema der „Geliebten“ in einer grotesken Fassung. Der Hexentanz verzerrte sich jetzt zur grässlichen Grimasse. Und die wilde Fuge des unbeschreiblichen Finales wurde in grandioser Größe dargeboten. Es war eine virtuos-raffinierte Entfesselung höchster Blechbläser-Kunst. Jubel, Begeisterung.
Alexander Walther