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Angela Brower (Nicklausse), Atalla Ayan (Hoffmann. Foto: Martin Sigmund
Stuttgart
„LES CONTES D’HOFFMANN“ 8.2. 2019 (30.1.2019 WA) – Ausgeburten der Phantasie mit glanzvollen Rollendebuts
Nach drei Jahren wurde die zwiespältig zu betrachtende Inszenierung von Christoph Marthaler als Gemeinschaftsauftrag der Opernhäuser von Madrid und Stuttgart in einer komplett neuen Besetzung wieder auf die Bühne geholt. Zwiespältig deshalb, weil einerseits dem phantastischen Charakter der Handlung in dramaturgischer Feinarbeit Rechnung getragen wird, jedoch die aus einer Künstlerkrise resultierenden Gespinste Hoffmanns und seine zunehmend verzerrten Wahrnehmungen der Liebe zu Frauen vor allem im Olympia- und Giulietta-Akt als reale Umsetzung mit zweifellos kunstvollen Bewegungseinlagen einiger Tänzer (nicht des Stuttgarter Balletts) von der Konzentration auf das Wesentliche ablenken. Demgegenüber steht ein fast statisch gehaltener Antonia-Akt, in dem sich die Darsteller wie abgezirkelte Figuren bewegen. Letztlich bietet der Bühnenraum von Anna Viebrock, eine freie Nachbildung des Circula de Bellas Artes, einer Kulturinstitution in Madrid, in dem geistige und künstlerische Produktivität gleichzeitig vereint sind, und die als Inspiration für diese Produktion von Offenbachs Oper gedient hat, Einblick in die Entstehung von Kunst. Im Café wartet Hoffmann auf Stella und verfällt in die Erzählung seiner bisherigen Frauengeschichten, im Zeichen- und Konstruktionssaal präsentiert Spalanzani sein Geschöpf Olympia, auf einem kleinen Stufenpodest findet Antonias Ringen zwischen der Kunst und der Liebe statt, und der Billardsalon ist Schauplatz der Hoffmann um sein Spiegelbild bringenden Giulietta.
Musikalisch gesehen wird eine eigens für dieses Projekt vom Premierendirigenten Sylvain Cambreling geschaffene, sich möglichst nah am Original haltende Fassung gespielt, die in erster Linie im diffus hinterlassenen Giulietta-Akt einige Überraschungen bietet. Für Kenner sei kurz erwähnt, dass die Diamanten-Arie berücksichtigt, das Septett aber gestrichen ist.
Jede Menge Debuts machen diese Aufführungsserie zu einer spannenden Angelegenheit, besonders diejenigen der beiden männlichen Protagonisten sorgten für vokalen Glanz bei gleichzeitig starker Identifikation mit ihren Rollen. Der im Stuttgarter Ensemble groß gewordene und nun freischaffend die bedeutenden Bühnen der Welt erobernde Atalla Ayan überwältigt allein schon durch sein ausgeprägt attraktives glutvolles Timbre, ein Sänger mit allen Attributen eines Latino, leidenschaftlich, gefühlvoll, vielfach betörend schön, und bei einer so unangenehm hoch notierten Partie wahrlich keine Normalität: über alle Anforderungen hinweg ohne jegliche spürbare Anstrengung oder Kraftverausgabung, durchgebildet in den Spitzentönen. Allenfalls eine stärkere Dynamisierung in der Phrasierung bleibt als Wunsch noch übrig.
Kaum nach steht ihm der derzeitige Ensemble-Publikumsmatador Adam Palka, dem einfach alles gelingt, jeder der vier Widersacher-Erscheinungen in nur marginal unterschiedlicher Aufmachung eine differenzierte Ausdruckspalette beimischt, spielerisch wie immer gewandt seinen Prachtbass funkeln lässt, sämig in der Tiefe, beweglich präsent in den Zwischenlagen und mit einer Top-Höhe. „Scientille diamant“ gerät zu einem faszinierenden Kunstwerk, sinnlich in der melodischen Erfüllung und schillernd im geschmeidigen Ausdruck wie es einem solchen Edelstein gebührt.
Angela Brower von der Bayerischen Staatsoper berührt als Muse/Nicklausse mit aller für diese Doppelrolle geschriebenen Musik in sympathischer Gestaltung und bereits zum Sopran tendierendem hellem Timbre, was sich auch in einem Ungleichgewicht zwischen schwach ausgeprägter Tiefe und leuchtend klarer Höhe niederschlägt. Lisa Mostin ersetzte die ursprünglich vorgesehene Beate Ritter als köstlich naive Olympia im Dirndl, die nicht wie ein Roboter zusammenklappt, sondern deren Kopf nach unten kippt und von ihrem Schöpfer wieder hochgeschoben werden muss. Die belgische Koloratursopranistin gibt gehörig Gas, riskiert auch manchen unschön ausufernden aberwitzig eingelegten Spitzenton und neigt in der vokalen Substanz bereits zu dramatischeren Aufgaben. Olga Busuioc verströmt als Antonia viel Seele in nuancenreiche Lyrismen und schafft dank einer gesättigten Tiefe und erotischem Beiklang mühelos den Spagat zur gegensätzlich veranlagten Giulietta. Nur manchmal geraten die durchsetzungsfähigen Höhenausbrüche etwas aus dem Kern und tendieren zum Umkippen. Die Rumänin ist mit ihrem herzhaften Ausdruck nichts desto trotz ein Gewinn für das Haus.
Foto: Martin Sigmund
Bei Matthew Anchel erstaunt, dass sein solider Bass trotz beträchtlicher Körperfülle über eine etwas dünne Resonanz verfügt und sich als Luther und vor allem als Antonias Vater Crespel im Terzett nicht richtig durchsetzen kann. Eine Kuriosität bildet Graham F. Valentine als skurriler Spalanzani, der Besuchern als Führer durch den Kunst-Bühnenraum auch seine wundervolle Tochter präsentiert. Sein schnarrender Charaktertenor lässt wie auch immer aufhorchen. Andrew Bogard umreisst den kurzen Part des Kontrahenten Schlemihl um Giuliettas Gunst mit potentem Bassbariton und wird von Hoffmann gnadenlos auf einem einbrechenden Billardtisch schachmatt gelegt. Moritz Kallenberg (Nathanael) und Pawel Konik (Hermann) zeichnen kurz und prägnant umrissene Typen mit präsenten Stimmen. Maria Theresa Ullrich geistert als Dame in schwarz mit Hut leibhaftig als Antonias Mutter über die Bühne, erfüllt von einem noch frischen Mezzosopran. Altea Garrido , die auch f+r die Choreographien der Phantasien Hoffmanns verantwortlich zeichnet, nutzt die Sprechrolle der Stella hier als Podium für ein über die künstlerische Krise Hoffmanns hinausreichendes politisches Pamphlet in ihrer Muttersprache Portugiesisch. Ob das unbedingt sein mußte?
Der Staatsopernchor (Einstudierung: Bernhard Mancado) ist schauspielerisch stärker gefordert als mit seinem recht kurzen vokalen Part und tut dies mit sichtlichem Genuss als eine Gruppe aus lauter auffallenden Einzeltypen. Marc Piollet tauchte mit dem Staatsorchester Stuttgart nach anfangs etwas dicklich massiver Begleitung mehr und mehr in den doch sehr differenzierten Tonfall zwischen Couplet und dämonischer Zuspitzung, also zwischen französischer Leichtigkeit und deutscher Hochromantik ein und konnte kurzfristige rhythmische Unstimmigkeiten mit dem Chor nicht ganz verhindern.
Nach der zweiten Pause des so auf vier Stunden gedehnten Abends hatten sich manche Reihen deutlich gelichtet, die noch Anwesenden feierten das musikalische Personal mit gerecht verteilter Begeisterung.
Udo Klebes