„Muttertier“ von Leo Lorena Wyss am 25. 5. 2025 im Kammertheater/STUTTGART
Verankerung in Ritualen

Marietta Meguid, Karl Levan Schröder, Josephine Köhler. Foto: Björn Klein
„Ich verstehe dich…Aber immer, wenn ich den Mund öffne, immer wenn ich etwas sagen will, dann ist da nur der Muttermund…“ Drei Geschwister tollen, taumeln und tauchen im Becken eines Hallenbads. Sie spielen und lassen sich fast untergehen, bis das „Muttertier“ auftaucht. So nennen sie jedenfalls ihre Mutter, die alle drei ans rettende Ufer bringt. Diese drei Geschwister erinnern sich am Krankenbett der Mutter an ihre Kindheit. Eines der Geschwister erinnert sich dann auch an seine frühe Verantwortung, das andere fühlt sich der Mutter im eigenen Mutterwerden sehr nahe. Selbst die Mysterien eines „Kaiserschnitts“ werden hier angesprochen. Das dritte sucht die Nähe zur Mutter. Die Unterschiedlichkeit dieser Geschwister bringen die drei wandlungsfähigen Darsteller Josephine Köhler, Marietta Meguid und Karl Leven Schroeder auf den Punkt. Sie schauen sich immer wieder den gleichen Film an: „Titanic“. Es geht um das scheinbar unsinkbare Schiff, das alles zusammenhält. Der Umgang dieser Geschwister mit der psychisch kranken Mutter findet auf engstem Raum statt. Die subtile Regie von Lilly Meyer trägt dem Rechnung. Bühnenbild und Kostüme von Helen Stichlmeir und Paula Gehrlein unterstreichen diesen Ansatz deutlich. Es wird die zentrale Frage gestellt, was Mütter in dieser Gesellschaft leisten müssen. Dabei wird das Leben überhaupt hinterfragt und von verschiedenen Blickwinkeln aus beleuchtet. Die absurden Erwartungshaltungen an die Mütter werden hier karikiert und sarkastisch beleuchtet. Dabei brennen die Schauspieler auch ein wirkungsvolles rhetorisches Feuerwerk ab. Das Stimmengeflecht schwankt zwischen Ernsthaftigkeit und Unschuld. Manchmal verliert die Handlung aber auch den roten Faden und droht, im Chaos zu versinken. Schwarze Tücher bedecken die Geschwister, sie philosophieren in der Dunkelheit über Gott und die Welt: „Verbrennt eure Angst!“ Die kindliche Perspektive wird ad absurdum geführt. Gemeinsame Rituale wie Fischstäbchen und Erdnussflips zelebrieren sie genüsslich. Oftmals sprechen sie dann im Chor, die Situation eskaliert. Gelegentlich besteht bei diesem Stück auch die Gefahr der Langatmigkeit, obwohl der poetisch-rhythmische Text durchaus sprachliche Vorzüge hat. Kindliche Unschuld erzählt hier aber auch von Glück, das unvergänglich ist. Wenn die Mutter stirbt, begreift man, dass dies irgendwie der Untergang der „Titanic“ ist. „Ich hab mich mein ganzes Leben lang schlecht gefühlt“, heißt es dann. „Wenn die Fliegen da waren…“ Um das Krankenbett der Mutter herum steigert sich dann das „Wir“-Gefühl der Geschwister: „Wir fliegen…“ Im letzten Augenblick erscheint das Wort „Ich“ als großes Rätsel, als eine Art Fata Morgana, die den Zuschauer ratlos zurück lässt. Und die fatale Verankerung in seltsamen Ritualen wird plötzlich zur Falle: „Und mit einem Muttermund spricht man nicht…“ Das Publikum erfährt, dass die Mutter immer alles „rausgesaugt“ hat. Trotz mancher Schwachstellen kann dieser Text durch seine rhythmische und sprachliche Qualität überzeugen. So reagierten die Zuschauer denn auch mit „Bravo“-Rufen.
Alexander Walther