Julian Lehr, Celina Rongen. Copyright: Julian Baumann
STUTTGART/ Kammertheater: „JUGEND OHNE GOTT“ von Ödön von Horvath am 25. November 2018
STREIT ÜBER NEGER
In einer Inszenierung von Zino Wey wird das Verhältnis untersucht, das eine Figur und ein Körper zur Welt hat. Denn den Glauben an eine Zukunft kennt die Jugend ohne Gott nicht. Sie denkt nicht an den Aufbruch in eine Welt, in der es sich zu leben lohnt. Die Macht des Stärkeren zählt hier in einer grausamen Weise. Das wird auch im weiträumigen Bühnenbild von Davy van Gerven betont, in dem lange Pfähle nach unten ragen und ein metallenes Drehgerüst den Blick magisch auf sich lenkt (Kostüme: Veronika Schneider). Disziplin, Autorität, Menschenverachtung, Kälte, Nihilismus und Angst weisen bereits auf Hitler-Deutschland hin – eine Welt, die der visionäre Autor Ödön von Horvath vorausahnte. Haltungen und Gefühle, die die Jugendlichen ohne Gott lernen müssen, stellt der Regisseur brutal und grell heraus. Die Lehrer lieben den Kasernenhofton, kommandieren die Mannschaft herum, drangsalieren die jungen Männer bis aufs Blut. Das Leben in der Diktatur zeichnet sich bereits ab.
Der von Marco Massafra dargestellte junge Lehrer ist hier ein minuziöser Chronist seiner Zeit. Gleichzeitig ist er ein überzeugter Humanist, der sich der Obrigkeit aber nicht beugt. Auf der Klassenfahrt wird aber ein Schüler ermordet. Das bringt die anfänglich heile Welt des Lehrers ins Wanken. Der Verdacht fällt auf einen Mitschüler, der mit dem Ermordeten in keinem guten Verhältnis stand. Aber auch ein herumstreunendes Mädchen lenkt Verdächtigungen auf sich. Der Lehrer hat jedoch einen anderen Verdacht. Doch die Beweise sind zu mangelhaft. Er macht sich deswegen auf die Suche nach dem wahren Täter. Das steigert die Spannung bei dieser Inszenierung erheblich. Überall begegnen ihm Feindseligkeit, Lügen und eisernes Schweigen. Der Lehrer beginnt einen scheinbar aussichtslosen Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit. Körpersprache und Bewegung spielen hier eine große Rolle. Die naturalistische Darstellung der Geschichte steht plötzlich im Zentrum. Eine eigene Welt wird innerhalb eines Systems erfunden. Die Schauspieler sollen ein Eigenleben entwickeln, was diesen auch weitgehend gelingt. Schließlich gibt der Lehrer zu, das Kästchen entwendet zu haben, das einem Schüler gehörte. Die Staatsanwaltschaft will Anklage erheben. Man spricht von „Sabotage am Vaterland“. Moralisch wird dem Lehrer von den Eltern die Schuld am Tod des Schülers angelastet. Der tote Schüler erscheint ihm, den er jedoch rasch mundtot macht. Er erfährt, dass seine Spitznamen in der Schule „Fisch“ und „Neger“ sind. Die Eltern werfen ihm ultimativ vor, Neger zu verteidigen. Dann verschwinden alle: „Jetzt seid doch nicht so feig!“ Denn auch die scheinheiligen Eltern kümmern sich nicht mehr um Gott. Und der wahre Täter wird eigentlich nicht gefunden. Der Lehrer fühlt sich permanent bespitzelt. Geschichten werden dabei über Tableaus erzählt, Spannungsfelder ganz bewusst aufgebaut. Parallelbilder erhalten eine große Bedeutung – gerade auch beim Mordprozess, der die Straftaten aufklären soll.
Daniel Fleischmann, Julian Lehr. Copyright: Julian Baumann
Die Mehrschichtigkeit der Kunstsprache steht plötzlich im Mittelpunkt. Horvath beschreibt eine Gesellschaft, deren Werte und Vorstellungen stark durch Militarisierung, Verrohung und Isolierung geprägt sind. Humanistische Werte haben keinen Platz mehr. Der Lehrer wird immer handlungsunfähiger und schließlich zum Antihelden: „An den lieben Gott denkt keiner.“ Der Tod von Jugendlichen spielt dabei eine zentrale Rolle. Metaphern und Bilder, die mit dem Tod einhergehen, rücken plötzlich ins Zentrum. Es gibt aber auch eine klare Abgrenzung zwischen den Älteren und den Jugendlichen. Die typische Melancholie und Schwere arbeitet Zino Wey in seiner Inszenierung sehr grell heraus, auch wenn nicht jede szenische Umsetzung gelingt (Musik: Ziggy Has Ardeur). Stark sind die Auseinandersetzungen des Lehrers mit dem Pfarrer, den Robert Rozic mit glaubwürdigem Ernst darstellt (er ist auch noch als Verteidiger, Mutter und Person T zu sehen). Julian Lehr überzeugt weitgehend als Vater sowie als Personen Z und W. Daniel Fleischmann gelingt es als Vater, Person N und Staatsanwalt, die gespannten Blicke der Zuschauer auf sich zu lenken. Celina Rongen beeindruckt aufgrund ihrer Bühnenpräsenz als Mädchen Eva, Person E und Tormann. Und Sebastian Röhrle lässt Julius Caesar, Feldwebel, Richter und Philippi höchst lebendig und elektrisierend agieren.
Was hat Horvaths Text mit unserer Zeit und Wirklichkeit zu tun? Sehr viel. Viele Ereignisse im heutigen Deutschland weisen auf erschreckende Prallelen hin. Und dies vor allem deswegen, weil immer weniger Menschen zu Solidarität und Nächstenliebe fähig sind. Es herrscht nur noch eiskalte Technokratie. Diesen Aspekt stellt die Aufführung in heftiger Weise heraus. Und der Lehrer verlässt zuletzt seine Heimat, in der er nicht mehr gebraucht wird, um an einer Missionsschule in Afrika zu unterrichten. So schließt sich der Kreis. Das Spiel ist aus.
Starker Schlussapplaus.
Alexander Walther