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STUTTGART/ Kammertheater: IMAGINARY EUROPE. Uraufführung

Jesus Christus als Freiheitssymbol

10.04.2019 | Theater


Tenzin Kolsch, Claudia Korneev, Tina Orlandini, Adrian Pezdirc. Foto: Björn Klein

Uraufführung „Imaginary Europe“ am 10. April 2019 im Kammertheater/STUTTGART

JESUS CHRISTUS ALS FREIHEITSSYMBOL

 Eine Gruppe von Schauspielern aus Kroatien, Polen und Deutschland machen über einen längeren Zeitraum europäisches Theater. Nun haben sie auch in Stuttgart Station gemacht. In „Imaginary Europe“ entwirft der Regisseur Oliver Frljic mit seinem engagierten Ensemble ein theatralisches Utopia. Auf dieser imaginären Insel werden die geltenden Gesetze außer Kraft gesetzt. Das Publikum wird zu einzelnen Stationen der europäischen Geschichte entführt. Zunächst geht es um das „Schwarze Quadrat“ von Kasimir Malewitsch, das 1915 entstand. Hier wird das Ende von figurativer und mimetischer Malerei markiert. Im weiteren Verlauf der ausdrucksstarken Inszenierung betritt das Ensemble „Das Floß der Medusa“ von Theodore Gericault, das Überlebende im Jahre 1816 zeigt. In seinem Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ lässt Peter Weiss eine seiner Hauptfiguren darüber sprechen. Das Motiv des Floßes kann auch hier als Sinnbild für die Flüchtlingskrise gesehen werden.

Die Abschaffung von Privateigentum steht im Zentrum dieses Konzepts „Utopia“, wobei sich auf dem Floß ein Mikrokosmos bildet. Unter dem dramatischen Ereignis des Schiffbruchs können auch neue Formen des Zusammenlebens entstehen. Die wandlungsfähigen Schauspielerinnen und Schauspieler Tenzin Kolsch, Claudia Korneev, Tina Orlandini, Adrian Pezdirc, Jasmina Polak und Jan Sobolewski ziehen sich immer wieder nackt aus. Dadurch wird die ausweglose Situation des Schiffbruchs deutlich gemacht. Es geht aber auch um die „Befreiung aller Unterdrückten“, ein Versprechen auf Emanzipation steht im Raum. Der Mensch, der an der Spitze des Floßes steht, besitzt eine dunkle Hautfarbe. Das Versagen der damaligen herrschenden Klasse in Frankreich wird hier bloßgestellt. Oliver Frljic (Kostüme: Sandra Dekanic) zitiert bei seiner vielschichtigen Inszenierung zudem aus dem Tatsachenbericht zweier Überlebender: des Arztes Savigny und des Ingenieurs Correard. Dieser erschütternde Bericht erzählt auch von Kannibalismus, der auf der Bühne blutrünstig vorgeführt wird.

Das dritte Kunstwerk in dieser Inszenierung ist „Die Freiheit führt das Volk“ von Eugene Delacroix, das die Julirevolution von 1830 ins Zentrum stellt. Peter Weiss glaubt, dass sich der Maler Delacroix in einer Figur selber porträtiert. Delacroix steht in der zweiten Reihe hinter Marianne, der Personifikation von Liberte. Kunst hat in dieser Aufführung eindeutig eine politische Verantwortung, die sich jedoch ebenso ins Religiöse transportieren lässt. So tragen die Darsteller ein großes Christuskreuz herein, wobei blasphemische Assoziationen trotz aller Freizügigkeit bewusst vermieden werden. So wird Jesus Christus gleichsam zum Freiheitssymbol. Weil dieses Projekt als Koproduktion zwischen drei EU-Ländern konzipiert ist (nämlich Kroatien, Polen und  Deutschland), möchte Oliver Frljic bei seinem Regiekonzept ein transnationales Europa kreieren. Kapitalismus wird hier klar kritisiert. Die Schauspieler sind nicht an ihre nationale Herkunft gebunden. Da Sprache etwas Lebendiges ist, hat man sich auf Englisch geeinigt. Die Sätze werden von serbischen Floskeln gereinigt. Zitiert wird hier auch aus „Der glücklose Engel“ von Heiner Müller: „Hinter ihm schwemmt Vergangenheit an, schüttet Geröll auf Flügel und Schultern, mit Lärm wie von begrabnen Trommeln, während vor ihm sich die Zukunft staut, seine Augen eindrückt, die Augäpfel sprengt wie ein Stern, das Wort umdreht zum tönenden Knebel, ihn würgt mit seinem Atem…“ Aber auch Walter Benjamin kommt mit „Angelus Novus“ zu Wort: „Es gibt ein Bild von Paul Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt…“ So erscheinen die Darsteller hier immer wieder auch als gefallene Engel oder antike Statuen, die sich auf die Mosaikplatten von Delacroix‘ Gemälde stellen. Trotz geringfügiger szenischer Bruchstellen gelingt es dem Regisseur insgesamt gut, den szenischen Fluss laufen zu lassen. Aktuelle Probleme wie die Verhaftung Serebrennikovs oder das Problem der Homosexualität werden ebenfalls angesprochen. Aber die Gruppe geht auch sehr stark aufeinander zu, verbannt Intimität nicht. Peter Weiss erscheint hier eindeutig als marxistisch-sozialistischer Realist, der den Existentialismus überwunden hat: „Während das Volk unter der Freiheitsgöttin verblutete, blickte er, der Mitläufer, düster, melancholisch, seinem Aufwachen entgegen, und dieses Aufwachen war voller Verrat...“

In der improvisierten Pause kann das Publikum die Bühne betreten. Die Zuschauer werden in den szenischen Ablauf geschickt integriert. Viel Zustimmung und Applaus

Alexander Walther

 

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