Marietta Mequid, Jannik Mühlenweg und Josephine Köhler. Foto: Björn Klein
„Die Lage“ von Thomas Melle (Uraufführung) am 19.9.2020 im Kammertheater/STUTTGART
Wohnungsbesichtigung als Castingshow
Auffallend ist bei diesem Stück der ungebremste Spielwitz und die komödiantische Energie, mit der die Darsteller Boris Burgstaller, Josephine Köhler, Marietta Meguid, Jannik Mühlenweg und Sebastian Röhrle hier in der temporeichen Inszenierung von Tina Lanik agieren (Bühne: Stefan Hageneier; Kostüme: Stefan Hageneier/Lara Roßwag). Es geht um die Figur des Ideal-Mieters mit dickem Bankkonto und einem vorzeigbaren Partner. Das WG-Zimmer, die Dreizimmer-Altbauwohnung in einem Luxus-Viertel oder ein Loft über den Wolken rückt grell ins Zentrum. Neoliberalistische Träume scheinen dabei verwirklicht zu werden. Gleichzeitig hat man Furcht vor dem „sexuellen Durchlauferhitzer“. Die Traum-Wohnung rückt immer wieder in weite Ferne. Makler und Journalisten geben sich in rasanter Form die Klinken in die Hand, der Wohnungskauf gerät zur Revue, zur imaginären Casting-Show voller Überraschungen. Reiche Erbinnen, Wegsanierte und An-den-Rand-Gedrängte beherrschen dabei in fast schon grotesker Weise den Wohnungsmarkt, der plötzlich zum Kriegsschauplatz verkommt. Sogar der ehemalige Mieter erscheint plötzlich auf der Bildfläche: „Ich habe eine Wut!“ Anwohner mokieren sich über „Massen von Nazis“, die hier gelebt haben. Ein Mann erregt sich fürchterlich über den „Flachspüler“: „Ich will meine Scheiße nicht immer begutachten müssen!“
Die begehrten Innenstädte verwandeln sich in Festungen des Luxus und der Unnahbarkeit. „Die Miete ist die soziale Frage unserer Zeit“, lautet der Slogan. Über Japan und seine Scham über die Verdauung wird eifrig diskutiert. „Frau Oberlehrer“ und „Herr Schwiegertochter“ erscheinen plötzlich in einem seltsamen Gewand. Die Mieten-Lüge führt schließlich zu heftigsten Kontroversen. Sogar eine erotische Akustikprobe wird als Zumutung von den Wohnungsbewerbern verlangt: Das Um-die-Wette-Stöhnen erscheint ungewöhnlich komisch und fast grotesk. Man erinnert an den „Unsozialstaat DDR“ und die „Westentaschenrevolutionäre“. Der Makler wird beschimpft: „Sie sind Trump!“ Die verzweifelten Wohnungsbewerber ziehen sich sogar nackt aus, es kommt zur Zwangsräumung. Die Schufa wird als „Drecksverein“ bezeichnet. Und als ein weiterer Kandidat völlig durchdreht, holt die erboste Maklerin kurzerhand die Polizei. Geldwäscher und Steuerhinterzieher bleiben letztendlich chancenlos. Und der Mieter muss sogar ein „Schnarch-Diplom“ absolvieren.
Boris Burgstaller. Foto: Björn Klein
In raffinierten Video-Aufnahmen geht es in das Innere der Wohnung, Scharfschützen bedrohen die Miet-Interessenten, es droht eine kollektive „Revolution“. Melle nennt seine Szenenfolge „Personen in Wohnungen an Orten und Zeiten“. Dieser illustre Chorsatz besteht aus Stimmen von Maklern, Obdachlosen und der anwachsenden Gruppe von Wohnungssuchenden. Der Augenoptiker Max O. bekommt von seiner Partnerin sogar einen Stöckelschuh ins Auge gerammt. Die Menschen erregen sich über die Gentrifizierung. Und beim Candle-Light-Dinner traut sich die reiche Erbin nicht über die Höhe ihres Erbes zu sprechen. Friedrich Engels Text „Zur Wohnungsfrage“ geistert durch den Raum. Zuletzt liegt ein völlig verkabelter Mensch im Bett eines Schlaflabors. Beim demütigenden Schaulaufen müssen die Mieter ihr Innerstes preisgeben: „Ohne Rührung keine Vorstellung, ohne Vorstellung keine Wohnung“. Die Inszenierung besticht trotz kleinerer Schwächen durch ihre genaue Beobachtungsgabe. Der kalten Abstraktion des Bühnenbildes wird eine emotional völlig aufgeheizte Personenführung entgegengesetzt.
Alexander Walther