Uraufführung „Im Ferienlager“ im Kammertheater Stuttgart
Die Ausgrenzung des Einzelnen
Uraufführung „Im Ferienlager“ von Olga Bach am 11. Januar 2025 im Kammertheater/STUTTGART
Björn Klein
Irrungen und Wirrungen in einem Ferienlager stehen im Mittelpunkt dieses neuen Stücks von Olga Bach, die auch als Juristin in Palermo Rechtsberatung für Geflüchtete macht. Zwischen Hitchcock, Chabrol und der Berliner Staatsanwaltschaft ist nun eine beklemmende Geschichte entstanden, die aber nicht ohne Humor auskommt. Jessica Glause hat das Werk voller Hintersinn inszeniert. Da sieht man eine schlafende blonde Frau auf dem Bühnenvorhang, der plötzlich verschwindet. Im Hintergrund erscheint im weiträumigen Bühnenbild von Jil Bertermann eine halbe Erdkugel, die fast an das Goetheanum von Rudolf Steiner erinnert. Das Gestell zerbricht dann in Einzelteile. Anthroposophische Bezüge gibt es übrigens auch bei den Kostümen von Florian Buder. Und die Musik von Joe Masi vereint Popmusik mit Klassik. So erklingen Songs wie „Break my soul“ oder „Bohemian Rhapsody“ von Queen – aber auch „Mir ist so nach dir“ (Spoliansky) und „Wachet auf ruft uns die Stimme“ von Johann Sebastian Bach. Die Autorin hat sich tatsächlich mit der Waldorfschulpädagogik auseinandergesetzt, die hier in Stuttgart von hundert Jahren entstanden ist. Die jungen Menschen erhalten dabei Einblicke in die „Wurzeltheorie“ und werden mit Abbildern menschlicher Entwicklungsstufen konfrontiert.
Wir befinden uns in einem Bauernhof im Mannheimer Umland im Jahre 1923. Erwähnt wird dabei sogar der berühmt-berüchtigte Putsch Adolf Hitlers. Die von Silvia Schwinger mit vielen Nuancen gemimte Chorleiterin Luise Mohn bekommt bald Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Gemeinschaft. Celina Rongen spielt überaus temperamentvoll die Lokalreporterin Ruth, die einen Verdacht gegen den Heimleiter Heinrich hegt, den Sebastian Röhrle nicht ohne Hintersinn verkörpert. Oskar Marx stellt den Jugendlichen Emil glaubwürdig dar, der der Chorleiterin von seinen Mobbingerfahrungen berichtet. Kurz darauf wird eine Leiche im nah gelegenen Wald entdeckt. Nun fällt der Mordverdacht auf den Betreuer Luis, den Simon Löcker mit Intensität mimt. Der Heimleiter und die Jugendlichen halten jetzt ihre Ängste nicht mehr im Zaum. Rassismus und Diskriminierung sind an der Tagesordnung. Es wird außerdem thematisiert, dass die Lehrer in Waldorfschulen nicht eingreifen, wenn Schüler ihre Mitschüler attackieren. Da dem betroffenen Jugendlichen unterstellt wird, ein schlechtes „Karma“ zu haben, bleibt er sich selbst überlassen. Die Inszenierung schafft damit starkte Spannungspunkte, die sich immer weiter verdichten. Ethik und Moral bleiben zuweilen auf der Strecke. Die Chorleiterin Luise Mohn wird von den Jugendlichen abgelehnt, weil sie nicht die vorgeschlagenen Lieder singen wollen. Dabei entstehen auf der Bühne beklemmend-elektrisierende Ängste. Das Stück mit offenem Ende erzählt viel von der Ausgrenzung des Einzelnen und davon, wie stark junge Menschen beeinflussbar sind. Dem Chor mit den Darstellern Amelia Bartmann, Lea Birk, Philina Busch, Charlotte Gerlach, Julius Grimmer, Marek Hilgarth, Juli Hilpert, Rebecca Kustek, Marie-Sophie Million, Emilia Papavasiliou, Arman Shakhramanian, Rubina Trost, Sander Winter und Yona Winter kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Das erinnert natürlich auch an die griechische Tragödie eines Euripides oder Sophokles. Zuletzt greift die Journalistin Ruth aktiv ins Geschehen ein, will Emil befreien, richtet die Waffe auf die Heimleitung. Doch der Heimleiter herrscht sie an: „Sie dumme Person…Geben Sie mir die Waffe…“ Ruth kontert aggressiv mit „Loslassen!“ Dann geht das Licht aus und das Stück ist plötzlich zu Ende. Der Zuschauer hat noch viele Fragen, die nicht beantwortet werden.
Manchmal fehlt in der Handlung auch der rote Faden und man erfährt nicht alles. Trotz dieser Schwächen ist diese Uraufführung gelungen. Viel Applaus und „Bravo“-Rufe.
Alexander Walther