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STUTTGART/ Kammertheater: GORKIS MUTTER von Lena Lagushonkova

20.11.2022 | Theater

„Gorkis Mutter“ von Lena Lagushonkova am 19.11.2022 im Kammertheater/STUTTGART

Dem Reiz der russischen Welt zum Opfer gefallen

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Tetyana Krulikovsk. Foto: Björn Klein

In ukrainischer und deutscher Sprache konnte man diese bunte und abwechslungsreiche Inszenierung von Maxim Golenko (Bühne und Kostüme: Olesia Golovach) im Kammertheater erleben. Es handelt sich dabei um eine Art Recherche, warum es überhaupt zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine kam. Mit den vier facettenreichen Darstellerinnen Inna Bulbotko, Senia Doliak, Diana Kalandarishvili und Tetyana Krulikovska hat er engagierte Künstlerinnen zusammengebracht, die viel von der Mentalität der Menschen in der leidgeplagten Ukraine vermitteln.

Der Krieg kam bereits im Jahre 2014 – und seitdem kämpfen die Menschen verzweifelt um ihre Existenz. Die jungen Frauen spielen hier mit Teddybären. Man sieht einen schiefen Tisch, ein Bett und eine große silberne Kugel, die wohl die Welt darstellt. Man erfährt auch, wie die jungen Mädchen unter ihrer ersten Menstruation leiden. Die Oma hat das zwar vergessen, aber sie kann der Enkelin zuweilen trotzdem helfen. Und es wird von einem hübschen Griechen erzählt, der ein Mädchen schwängerte und dann einfach“verduftete“. Schließlich stellt eine junge Frau fest: „Dann wäre ich in der EU aufgewachsen und hätte nicht den Schlüpfer über den Kopf gezogen bekommen!“ In den 90er Jahren sei bereits Krise gewesen, erfährt der Zuschauer. Der Mensch sei mehr wie der Krieg, meint die Autorin. Und der Regisseur Maxim Golenko möchte dieses Gefühl über die Rampe bringen. Traumatische Kriegserlebnisse  würden allerdings ein Leben lang bestehen bleiben. Diverse Figuren der Geschichte bis zum belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko sind bei dieser Inszenierung zu sehen. Und man erfährt, wie junge Männer in der Armee „fertiggemacht“ werden. Anstelle von Helden werden dabei ganz gewöhnliche Menschen gezeigt.

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Diana Kalandarishvili. Foto: Björn Klein

Die jungen Schauspielerinnen agieren hier mit viel Poesie, Einfühlungsvermögen und Spielwitz. Und auch das Klavier wird als vielschichtiges akustisches Spielfeld benutzt. Und die Mutter erzählt ständig von der Liebe zu ihrem Sohn und geht anderen Menschen damit auf die Nerven. Manchmal vermisst man bei der Handlung den roten Faden. Ein goldenes Kind hängt am Kruzifix, ein Kirchenchoral begleitet diese seltsame Szene. So ist eigentlich eine Geschichte über Liebe und ihre Abwesenheit entstanden. Es ist auch die Geschichte der Krankheit eines ganzen Volkes. Das Grenzgebiet der Kindheit ist auf ein Imperium gestoßen. Aus militärisch-strategischer Sicht ist dies ein Unglück. Viele Menschen seien dem Reiz der russischen Welt zum Opfer gefallen. Man sieht auf Fotos und Videos die zerstörten Städte der Ostukraine. Die Menschen wurden ermordet, entführt, deportiert. Zuletzt verlangsamt sich der Kirchenchoral in gespenstischer Weise. Eine Schauspielerin spielt die Kreuzigung Christi nach, zu ihren Füßen kniet ein Engel. Diese „Pieta“-Figur mit den erschütternden Kriegsbildern im Hintergrund gibt bei der Inszenierung das überzeugendste Bild ab. Da entsteht großes Theater.

Die Autorin Lena Lagushonkova sieht sich in jedem Fall als Teil der Geschichte. Gleichzeitig spürt man natürlich auch die Welt des russischen Dichters Maxim Gorki. Das Elend des „Nachtasyls“ ist allgegenwärtig. Die bürgerliche Mentalität scheint deutlich vom Leben „unten in der Tiefe“ beeinflusst worden zu sein. Der sie ablösende Geist des Sozialismus dringt hier immer drastischer in die Alltagswelt ein, im Hintergrund sieht man die Statue Lenins. Die Atmosphäre in dem Elendsquartier ist immer wieder gereizt. Der Teddybär wird zum Mannersatz. Und auch die Schwangerschaft spielt eine Rolle, eine Geburt wird nachgestellt. Trotz des  schrecklichen Krieges entsteht neues Leben.

Riesenapplaus, „Bravo“-Rufe für eine Inszenierung, die zum Ende hin immer mehr fesselt. 

Alexander Walther

 

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