Foto: Björn Klein
STUTTGART/ Kammertheater: DIE WAHRHEITEN von Lutz Hübner und Sarah Nemitz
Änderung aus heiterem Himmel
Plötzlich kracht es. „Wir stellen Sie zur Rede!“ lautet die ultimative Forderung von Sonja und Bruno, als sie erfahren, dass ihnen von Jana und Erik nach 17 Jahren die Freundschaft gekündigt wurde. Aus heiterem Himmel kündigen Erik und Jana per SMS an, den Kontakt einfach abzubrechen. Dadurch kommen Verletzungen ans Licht, die Marietta Meguid als Sonja und Michael Stiller als Bruno gekonnt und facettenreich herausarbeiten. Bruno hat nämlich Janas Psychologiestudium finanziert und das Paar in Erbschaftsangelegenheiten beraten. Er fühlt sich nun gedemütigt und schlecht behandelt. Und Sonja fürchtet, sie habe ihre Freundin Jana verstört, als sie ihr ein intimes Geheimnis über ihr Leben mit Bruno beichtete. Es kommt nämlich heraus, dass Sonja von einem anderen Mann geschwängert wurde. Jana (wandlungsfähig: Katharina Hauter) ihrerseits hat ein Missbrauchsproblem mit Bruno, der ihr bei einem Coaching-Seminar für Führungskräfte offensichtlich zu nahe kam. So kommen immer neue Wahrheiten ans Licht, als sich plötzlich die Perspektive ändert und Jana sowie der von Marco Massafra packend gemimte Erik die Bühne betreten. Auch ihre Ehe-Idylle ist bald dahin, denn Jana steigert sich in ihre Antipathie gegenüber Bruno immer mehr hinein. Er habe sie als „Fotze“ behandelt und mit ihr gemacht, was er wollte. Sie beschimpft Bruno sogar als „Zuhälter“.
Sophia Bodamer gelingt es in der subtilen Ausstattung von Prisca Baumann (Bühne und Kostüme) immer wieder, die Personenkonstellationen hier glaubwürdig über die Rampe zu bringen. Da dreht sich auch das Personenkarussell kräftig – und die braunen Holzwände im gelben Gestell werden heftig hin- und hergeschoben. „Es gibt Dinge, die ich mit dir nicht bespreche“, faucht Jana ihren Mann Erik an. Und bei Sonja und Bruno ist die Situation nicht viel anders. Erik arbeitet als Filmkritiker und hat nur ein bescheidenes Einkommen. Sonja und Bruno werfen den beiden nun vor, dass sie auf ihre Kosten gelebt haben. Bruno steigert sich in seine Wut und Aufregung immer mehr hinein, wobei ihm die Zickenhaftigkeit seiner Frau auf die Nerven geht. Ingmar Bergmans „Szenen einer Ehe“ lassen hier grüßen. Die Paare entfremden sich immer mehr voneinander. Dieser psychologische Prozess wird in Sophia Bodamers Inszenierung glaubwürdig herausgearbeitet. Es sind nicht nur die Sexismusvorwürfe, die die beiden Paare auseinanderbringt. Die Männer spielen die Sache herunter, die Frauen echauffieren sich. Doch in diesem Stück kommen sich nur die Männer und die Frauen letztendlich näher. Die Paarkonstellation zwischen Frau und Mann wird zuletzt sogar komplett ausgeschaltet. Dadurch ergibt sich aber auch ein gewisser Leerlauf im Stück selbst, den die Regisseurin nicht verhindern kann. Man kann jedoch nicht leugnen, dass auch in „Die Wahrheiten“ vor allem die Frauen sich das Leben schwer machen. Das Programmheft will gar suggerieren, dass Frauen an ihrem Elend selbst schuld seien. Das ist sicherlich nicht wahr.
Gleichzeitig werden die Machtverhältnisse durcheinandergemischt. Jana wird mit dem Problem des „Angrapschens“ einfach nicht fertig, denn ein Kollege hat ihr in der Firma zugesetzt. Und Bruno ist einfach dabei gestanden und hat ihr nicht geholfen. Sophia Bodamer hat in ihrer Inszenierung sogar darüber nachgedacht, wie man als „Mann Feminist“ sein kann. Insbesondere Erik geht auf diesen Aspekt ein, um dann daran zu scheitern. Denn Jana beschließt im Gespräch mit Sonja letztendlich, ihren Mann zu verlassen. Das ist der Preis dafür, dass er letztendlich ein „Waschlappen“ ist, der vergessen hat, einmal ordentlich auf den Tisch zu hauen und seiner Frau die Meinung zu sagen. Hier ist Bruno der Sieger, der seiner Angetrauten in fetziger Weise Widerpart gibt: „Ich habe keine persönliche Hitliste des Grauens!“
Inszenierung und Stück lassen jedoch viele Fragen offen. Manchmal wirkt das Spiel auch allzu plakativ und aufgesetzt. Man redet einfach aneinander vorbei. Und es kommen Zweifel auf, ob denn alles wirklich der Realität entspricht und nicht doch irgendwie gekünstelt ist. Vor allem hätte man gerne gewusst, ob es denn nicht doch ein Geheimrezept gibt, dass Frauen und Männer einander näher bringt. Aber darauf gibt es im Stück „Die Wahrheiten“ leider keine Antwort. Es gibt dann Augenblicke, wo man sich eine Szene von Loriot herbeisehnt. Doch das ist ein vergeblicher Wunsch.
Alexander Walther