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STUTTGART/ Kammertheater: DIE RACHE IST MEIN von Marie NDiaye

12.03.2023 | Theater

Urauffühung „Die Rache ist mein“ von Marie NDiaye am 11.3.2023 im Kammertheater/STUTTGART

Gefangen in der Gruppe

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Peer Oscar Musinowski, Therese Dörr, Larissa Aimee Breidbach, Celina Rongen. Foto: Björn Klein

„Wer war Gilles Principaux für sie?“ In der suggestiven Regie von Annalisa Engheben (Bühne: Andrej Rutar; Kostüme: Ines Burisch) gewinnt dieses Stück von Marie NDiaye rasch Leben. In einer von Gerüsten beherrschten Ausstattung erkennt man Maitre Susans Anwaltskanzlei in Bordeaux, wo plötzlich ein Mann auftaucht. Er bittet die Anwältin, die Verteidigung seiner Frau zu übernehmen, die die gemeinsamen drei Kinder umgebracht hat. Da sieht sich die Anwältin plötzlich mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert. In ihrem Klienten glaubt sie den Jungen aus reicher Familie zu erkennen. Er gab ihrem Leben eine unglaubliche Wendung.  Sie wird sehr unsicher. Auch das Verhältnis zu Sharon, ihrer illegal eingewanderten Haushaltshilfe aus Mauritius, ist schwierig und kompliziert. Ein Netz aus abstrusen Abhängigkeiten kettet die Protagonisten hier aneinander, was von den Schauspielern ganz plastisch dargestellt wird. Maitre Susan versucht, den Aufenthaltsstatus von Sharon, ihrem Mann und ihren zwei Kindern legalisieren zu lassen. Die dafür dringend benötigte Heiratsurkunde wird jedoch von Sharons Bruder in ihrer Heimat zurückgehalten. Sie muss auf die kleine Lila, die Tochter von Maitre Susans Lebensgefährten, aufpassen. Maitre Susan selbst hat einen nervlichen Zusammenbruch. Sie findet sich dann als Rechtsanwältin auf Mauritius wieder. Diese Frau wird zum Opfer ihrer unbezähmbaren Leidenschaften und Ekstasen, was Therese Dörr als Maitre Susan sehr überzeugend darstellt: „Warum habe ich Schmerz empfunden und nicht vielmehr Freude?“  Und immer mehr wird dieser schwierige Fall zu ihrem eigenen Alptraum. Die Hausfrau Marlyne Principaux hat ihre drei Kinder in der Badewanne ertränkt. Und die dritte Frau, die Mauretanierin Sharon, die illegal in Bordeaux im Haushalt der Anwältin beschäftigt ist, gewinnt hier ebenfalls eine immer größere Bedeutung.

Die Inszenierung macht vor allem deutlich, dass die handelnden Personen in eine immer stärkere Abhängigkeit voneinander geraten und dass sie zuletzt in der Gruppe regelrecht gefangen sind. Das gilt auch für die von Larissa Aimee Breidbach facettenreich dargestellte Sharon, für die von Wahnvorstellungen befallene und von Celina Rongen subtil gespielte Marlyne  Principaux sowie den zwischen verschiedenen Welten hin- und hergerissenen Gilles Principaux, der von Peer Oscar Musinowski glaubwürdig gemimt wird. Schatten der Vergangenheit legen sich wie ein dunkles Netz über die Gegenwart: „Sie spürt etwas an mir, aber was?“ Maitre Susan verliert allmählich den Boden unter den Füßen, sie verklärt Sharon zu einer Marienerscheinung. Zwischen der Anwältin, der Mörderin und der Heiligen steht Gilles Principaux, der von zwei Frauen angeklagt wird. Seine Ehefrau konnte sich nur durch den Mord an den gemeinsamen Kindern von ihm lösen. Die Regie hätte hier auch noch stärker betonen können, wie stark Gilles Principaux in eine ausweglose Lage gedrängt wird. So hält sich seine Verzweiflung manchmal zu sehr in Grenzen. Und doch gelingt es der Inszenierung insgesamt ausgezeichnet, die Psychosen der Frauen mit den Empfindungen des Mannes zu verbinden. Er wird zum Opfer dieser Beziehungen.

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Therese Dörr, Peer Oscar Musinowski. Foto: Björn Klein

Im Gefängnis hat die Kindsmörderin Marlyne Principaux ein Einzelzimmer, in dem sie sich vor der Außenwelt verstecken kann. Maitre Susan fragt sich, ob Gilles Principaux nicht jener junge Mann war, der sie als zehnjähriges Mädchen missbraucht oder beglückt hat. Den Fragen ihres Vaters weicht sie aus, Sequenzen des Unterbewusstseins beherrschen die Szene. In ihren Träumen und Alpträumen wird auch Maitre Susan zur Gefangenen ihrer selbst, die schließlich Fiktion und Realität nicht mehr unterscheiden kann: „Und wenn ich mich täuschte?“ Klar wird außerdem, wie tief Gilles Principaux in einer Depression steckt, deren Zwangsgewalt er nicht durchbrechen kann. Marlyne Principaux wird von Emotionen regelrecht durchgeschüttelt, die Protagonisten hängen rettungslos im Gerüst und erkennen sich selbst nicht wieder. Zuletzt werden sogar die Geschworenen im Mordprozess angesprochen.

Die letzt Szene spielt im Gericht, man bezeichnet Gilles  als „bösen Hausengel“, der nicht schuldlos an der Situation ist. Alles wird in Frage gestellt, das ganze Leben steht auf dem Prüfstand. Die Menschen werden zu Opfern ihrer Obsessionen. Die Musik von Geza Cotard gibt dem Ganzen eine unheimliche Aura. Gezeigt wird hier die von Annalisa Engheben und Carolin Losch erstellte Bühnenfassung des Romans von Marie Ndiaye. Es gab begeisterten Schlussbeifall für das gesamte Team.

Alexander Walther

 

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