David Müller. Foto: Björn Klein
Premiere „Die Nacht kurz vor den Wäldern“ von Bernard-Marie Koltes am 19. Juli 2020 im Kammertheater/STUTTGART
Verschwinden im Nichts
Ein namenloser Mann zieht nachts durch die einsamen Straßen einer Großstadt. Er ist allein mit sich und seinen Gedanken. Er fühlt sich fremd, sehnt sich aber auch nach Nähe, befindet sich leider auf der „Nuttenstraße“. Die Welt verurteilt ihn und stößt ihn zurück. Er fühlt sich ins Nichts geworfen. Dieser Fremde (souverän gespielt von David Müller) begibt sich in der subtilen Inszenierung von Annalisa Engheben (Bühne: Andrej Rutar; Kostüme: Annina Gull) auf die intensive Suche nach einem Gleichgesinnten, einer ebenso verlorenen Seele. Dabei betrachtet er auch intensiv ein ihm unbekanntes Mädchen. Er muss die Geschichten im Hinterkopf jemandem erzählen. Das ist für ihn überlebenswichtig. Er sehnt sich nach dem weiblichen Geschlecht, trifft aber immer wieder auf „Nutten“, die ihn hart in die Realität zurückwerfen. Aber dadurch wächst auch sein Widerstand gegen die Gesellschaft der Zuhälter und verbrecherischen Clans, die alles beherrschen. So entwickelt er fast fanatisch die unerhörte Vision eines Zusammenschlusses aller Benachteiligten und Unterdrückten – eine internationale Gewerkschaft. Das bleibt jedoch ein unerfüllbarer Wunschtraum. Und die Geschichten, die er erzählt, werden plötzlich immer brüchiger. Die Grenzen von Zeit und Raum verschieben sich. Die Figur des ruhigen Ankommens bleibt dieser unglücklichen Person verwehrt. „Man müsste anderswo sein, mit niemandem um sich herum, ohne dieses Problem mit dem Geld und ohne diesen Scheißregen…“ 1977 kam dieser Monolog von Bernard-Marie Koltes zur Uraufführung und machte den Autor über Nacht berühmt. Es geht ganz einfach um die universelle Erfahrung des Fremdseins, der unerbittlichen Ausgrenzung.
Dem Darsteller David Müller gelingt hier eine sehr facettenreiche Charakterisierung, die es in sich hat. Der Protagonist schildert, wie er in der S-Bahn von zwei Halunken wegen Geld zusammengeschlagen wird. Schließlich wird er selbst jedoch auch zum Schläger, der sich an seiner Umwelt rächt. Diesen inneren Verwandlungsprozess gestaltet David Müller höchst eindrucksvoll. Gelegentlich gerät der Monolog jedoch auch etwas langatmig. Im Hintergrund meint man schemenhaft einen Wasserteich zu erkennen, im Vordergrund sieht man verschiedene Dreiecke mit Sand und Gräben. Eine schroffe Landschaft wird hier angedeutet. Der Mensch ist dabei auf sich selbst zurückgeworfen. Die Musik von Giovanni Verga verstärkt den Eindruck des Unheimlichen, Grenzenlosen. Die Person verschwindet ganz allmählich im Nichts, in der Unendlichkeit, in der Namenlosigkeit. Gleichzeitig hat man das unbestimmbare Gefühl, dass sich eine ganze Gesellschaft auflöst. Darin besteht auch die Stärke der durchaus konzentrierten Inszenierung von Annalisa Engheben, die eine bedrückende Assoziation zu unserer jetzigen Situation schafft.
Alexander Walther