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STUTTGART/ Kammertheater: DIE ABWEICHUNGEN von Clemens J. Setz. Uraufführung

Lehrer in der Zwickmühle

18.11.2018 | Theater


Reinhard Mahlberg, Boris Burgstaller. Copyright: Björn Klein

STUTTGART/ Kammertheater: Uraufführung „Die Abweichungen“ von Clemens J. Setz im Kammertheater Stuttgart am 18.11.2018

LEHRER IN DER ZWICKMÜHLE

„Das ist doch obszön, das alles!“ schimpft der Lehrer Franz Kaindl, den Sven Prietz in der subtilen Regie von Elmar Goerden tatsächlich als Opfer seiner Neurosen mimt. Zusammen mit seiner Frau Lisa (facettenreich dargestellt von Katharina Hauter) und im in weißen Würfeln gehaltenen, eher schlichten  Bühnenbild von Silvia Merlo und Ulf Stengl trauert der Lehrer dem Tod seiner Putzfrau Frau Jassem nach, die in ihrer Besenkammer tot gefunden wurde. Die Polizei spricht von Selbstmord. Gleichzeitig will man den letzten Wunsch der Putzfrau erfüllen. In der Wohnung der Toten werden zudem aquariumähnliche Nachbildungen von Wohnungen gefunden, in denen sie geputzt hat. Frau Jassem hat diese Wohnungen detailgetreu nachgebaut.

Die eingebauten Abweichungen stürzen die psychisch kranken Familien in Elmar Goerdens Regie allerdings in schwere seelische Krisen, die sich nicht bewältigen lassen. Für die Kuratorin (überzeugend: Josephine Köhler) besitzen diese Modelle aber eine metaphysische Dimension, die unter die Haut geht. Frau Jassem ist offensichtlich mit den Familien nicht zurecht gekommen. Ob sie als Stalkerin oder als Opfer gescheitert ist, lässt diese nicht immer plausible Regiearbeit allerdings offen. Man vermisst zuweilen den roten Faden, weil die Schauspieler zu wenig aufeinander zugehen, zu wenig miteinander agieren. Jeder scheint in einem unentrinnbaren Glaskasten zu sein, der sich nicht mehr öffnen lässt. Eine kranke Seele bleibt rettungslos zurück, kann sich nicht mehr befreien. Mit schwarzem Humor versucht die Inszenierung immer wieder, die zwischenmenschlichen Probleme der einzelnen Protagonisten aufzudecken. Dies gelingt aufgrund der zuweilen präzisen Beobachtungsgabe Elmar Goerdens, der Parallelwelten und unterschiedliche Realitätsebenen schafft. Die Wahrheit von Kunst und Geschichte wird aber nur oberflächlich hinterfragt. Die „Abweichungen“ machen den Protagonisten immer neu zu schaffen, bringen sie aus dem Gleichgewicht, lassen tausend Fragen offen. Das kommt recht gut zum Vorschein. Auch die anderen Personen entdecken in den Wohnungen ständig neue Tatorte. Dies gilt sowohl für den von Boris Burgstaller eher undurchsichtig gespielten Walter Oesterle als auch für den von Reinhard Mahlberg verkörperten Adam Oesterle, deren homoerotisches Verhältnis sich vor der Tochter nicht mehr verbergen lässt. Anke Schubert als recht hilflose Frau Schab und Peter Rühring als ihr dementer Mann Hans Schab fallen dabei aus dem Rahmen. Diese beiden Darsteller lockern aufgrund ihres professionellen Spiels das Geschehen auf der recht sperrigen Bühne durch witzige Charakterporträts eines schrulligen alten Ehepaars stark und überzeugend auf. Da macht das Zusehen Spaß, hier gewinnt die Inszenierung von Elmar Goerden auch deutlich an Qualität.


Boris Burgstaller, Sven Prietz, Josephine Köhler, Katharina Hauter. Copyright: Björn Klein

In weiteren Rollen gefallen Verena Buss als undurchsichtige Mutter der Kuratorin, Julius Forster als Tom Kaindl, Assistent, Stimme des Autors sowie Josephine Köhler als frustrierte Tochter Emily Oesterle. Die Kostüme von Lydia Kirchleitner passen sich dem Geschehen auf der Bühne weitgehend an. Die Probleme der unglücklichen Künstlerin als Putzfrau (die natürlich einen Scherbenhaufen hinterlässt) und die erbosten Wohnungseigentümer kommen oftmals frontal zum Vorschein.

Dabei entwickeln sich bei Elmar Goerden auch durchaus Situationskomik und Spielwitz. Die Demütigungen dieser Menschen werden bei der Inszenierung teilweise brutal aufs Korn genommen. Hier gewinnt die Aufführung aber auch an künstlerischem Wert. Denn das Lachen bleibt einem oftmals im Halse stecken. Die Entwertung der Arbeit geht mit ihrer sozialen Deklassierung einher. Der Mensch wird selbst zur Ware. Und der Lehrer gerät als „Mann mit Leitkultur“ rettungslos in eine psychische Zwickmühle, aus der er sich nicht mehr befreien kann. Zudem wird er noch als „kleines Nazi-Arschloch“ beschimpft. Selbst der Kampf gegen die Vorwürfe nützt ihm nichts. Kaindls Frau Lisa schließlich fühlt sich vom Selbstmord der Putzfrau betrogen. Und der Regisseur Werner Herzog kommt im Rahmen des „Zusammenbruchs der Sternenwelten“ zu Gehör. Die Schimpfkanonaden Klaus Kinskis bei den Dreharbeiten zu „Fitzcarraldo“ spart man aus.

Als Pendant zur Putzfrau wird im Stück von Setz noch ein Hausmeister erwähnt, der in seinem Leben nie nackte Frauen gesehen hat. Er zeichnete die Mädchen wie Buben. Goerden legt hier aber Wert auf Geschlechtertrennung.

Trotz mancher Abstriche ist diese Aufführung des sarkastischen Theaterstücks von Clemens J. Setz sehenswert. Viel Applaus.

Alexander Walther

 

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