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STUTTGART/ Kammertheater: „ALGO PASO“ („La Ultima Obra“) Bola de Carne, Thomas Köck, Anna Laner und Andreas Spechtl

25.10.2021 | Theater

Uraufführung „Algo Paso“ („La Ultima Obra“) am 24.10. 2021 im Kammertheater/STUTTGART

Alptraumhafte Bilder

bjop
Bernardo Gamboa, Micaela Gramajo. Foto: Björn Klein

Das Verschwinden als politisches und philosophisches Phänomen steht im Mittelpunkt dieses Stücks von Bola de Carne, Thomas Köck, Anna Laner und Andreas Spechtl. Die Frage steht im Raum, wann etwas verschwindet. Und welche Spuren hinterlassen Menschen, die verschwinden? Dieser Frage gehen die Darsteller Bernardo Gamboa, Micaela Gramajo, Timo Wagner und Annina Walt intensiv nach. Es geht dabei um ein Archiv, in dem Geschichten gespeichert werden. Und gerade in den Ländern Mittel- und Südamerikas hat das Verschwinden noch eine ganz andere Dimension. Denn unter dem Begriff „los desaparecidos“ („die Verschwundenen“) versteht man Menschen, die von staatlichen Sicherheitskräften heimlich entführt, verhaftet, gefoltert und ermordet wurden. In der Inszenierung von Thomas Köck (Bühne, Video, Licht: Daniel Primo, Produktionsleitung: Anna Laner) nähert man sich dem Verschwinden aber auch als ästhetischem Prinzip.

Die mexikanische Zivilbevölkerung hat nämlich damit begonnen, das Verschwinden von Menschen systematisch zu dokumentieren. Davon erzählt dieses Stück in suggestiver Weise und in eindringlichen Videobildern. Diese Registrierung geschieht ohne den Einfluss der Regierung. Die Idee dieses Archivs ist auch eine Inspiration für das Bühnenbild. Musik und Sounddesign von Andreas Spechtl begleiten dieses Geschehen in eindrucksvoller Weise. Erlebnisse und Gegenstände lösen hier Erinnerungen in den Menschen aus. Man muss komplett von vorne anfangen. Pakete und Betonklötze werden weggeräumt: „Man entkommt dem Anfang nicht…“ Dabei geht es auch um alptraumhafte Kriegserlebnisse und Waffenlieferungen von Heckler & Koch. Man erkennt auf den Videobildern viele Geflüchtete. Doch die Inszenierung erinnert auch daran, wie man mit neuen technischen Methoden und Handy-Videos eigene Archive aufbauen kann. Sie entstehen pausenlos im Kopf. Gegenstände und Menschen werden zuletzt an Seilen hochgezogen. Die Welt steht auf dem Kopf. Das besitzt eine mosaikartige Dimension, die sich aber immer wieder auflöst. Zum Schluss wird die gesamte Bühne aufgeräumt. Erinnert wird auch an die 43 mexikanischen Studenten, die einfach verschwunden sind. Es sind Morde, die kaum an die Öffentlichkeit gedrungen sind. „Wir wissen nicht, woher unsere Träume kommen“, lautet schließlich das Fazit. Die Frau im Video-Chat dreht durch: „Ihr wisst doch ganz genau, was passiert ist!“ Dabei entsteht auf der Bühne eine gewaltige dynamische Steigerung. Aber es gibt keine Antwort. So gibt es nur noch ein Archiv der Verdrängungen und Halbwahrheiten. Ein Archiv der letzten Dinge. Auch an die Verbrechen der Nazis wird erinnert, ebenso an ungeklärte Frauenmorde. Man kratzt seinen Namen in die Archivwände. Und der gesamte Raum verschwindet. Trotz einiger struktureller Schwächen vermag diese Aufführung das Publikum immer wieder zu fesseln. Viele Perspektiven und Spuren werden allerdings zum Verschwinden gebracht. Klar wird ebenso, dass gerade Mexiko-City von Emigranten-Erfahrungen geprägt worden ist. Man spürt, dass diesen Menschen allesamt die Angst im Nacken sitzt. Die Videos wurden übrigens im Frühjahr 2021 gedreht – es war die erste Reise des Teams nach den coronabeschränkten Reisebedingungen. Diese Figuren werden hier „Phantasmas“ genannt. Sie tragen Masken, die ihre Gesichter zum Verschwinden bringen.  In einer wahren Bilderflut entstehen pausenlos Begegnungen mit neuen Menschen. Es ist eine Koproduktion des Schauspiels Stuttgart mit Cultura UNAM y Teatro UNAM, Theatre National du Luxembourg und dem Goethe-Institut Mexiko. 

Alexander Walther

 

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