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STUTTGART/ junge oper im Nord: ANTIGONE-TRIBUNAL – Musiktheater von Leo Dick

Geballte harmonische Kraft

09.01.2020 | Oper


Chor der Bürgerinnen, David Kang, Deborah Saffery. Foto: Martin Sigmund

Musiktheater „Antigone-Tribunal“ von Leo Dick im „JOiN“ am 8. Januar 2020 im Nord/STUTTGART

Geballte harmonische Kraft

 Die tragische Geschichte der Antigone wird hier gleichsam neu erzählt. Antigone und ihre Geschwister sind die Kinder von Ödipus und seiner Mutter Jokaste. In der Nachfolge ihrer Eltern regieren Antigones Bruder Eteokles und Polyneikes Theben und geraten darüber in Streit. Polyneikes wird aus der Stadt verbannt und verbündet sich mit Thebens Feinden. So kommt es zum Krieg, in dem beide Brüder getötet werden. Und Kreon, der Onkel von Antigone, wird der neue König. Er erlässt ein Gesetz: Polyneikes darf nicht beerdigt werden, seine Leiche soll vor die Tore der Stadt gebracht werden – den Vögeln und Hunden zum Fraß. Antigone beerdigt ihn dennoch. Kreon verurteilt sie deswegen zum Tode und lässt sie lebendig begraben. Haimon, Antigones Verlobter und Kreons Sohn, kann seinen verblendeten Vater nicht umstimmen. Der blinde Seher Tiresias warnt Kreon vor der Missachtung uralter Gesetze und fordert ihn auf, Polyneikes zu beerdigen und Antigone aus ihrer Gruft zu befreien. Beides erfolgt nicht. Kreon und Antigone gehen schließlich unter – gelyncht von der wütenden Bürgermenge.

Unter der elektrisierenden Leitung von Christopher Schmitz kann sich das Staatsorchester Stuttgart bestens entfalten. Chromatik, Glissandi und Tremolo-Akzente sowie Triller wechseln sich wirkungsvoll ab. Auch der Metronom-Rhythmus ist immer wieder deutlich herauszuhören. Dreimal wird in Slavoy Zizeks 2013 erschienenem Theaterstück „Die drei Leben der Antigone“ Antigones Widerstand gegen jede staatspolitische Vernunft zu einem jeweils anderen Ende geführt. Auf diesem Stück basiert Leo Dicks Musik. Diese bildet die Grundlage für dieses interessante Musiktheater-Projekt für alle ab 16 Jahren. Mit einem eigens gecasteten Bürgerchor beleuchtet man hier auf und hinter der Bühne Fragen nach dem Erhalt, der Veränderung, der Auflösung oder Neuerschaffung politischer Ordnung. Die unsichere Lage in Europa spiegelt sich so auch in der unruhigen Musik von Leo Dick wider. Ein bruchstückhaftes Bühnenbild von Blanka Radoczy (die auch Regie führt) ergänzt die raffiniert eingesetzten „Echo-Kammern“. Andrea Simeons Kostüme wirken hier ebenfalls effektvoll. Als Antigone überzeugt Alice Rossi mit einer erstaunlichen stimmlichen Biegsamkeit, Wandlungsfähigkeit und zielsicheren Höhenlage, die auch den schwierigen Intervall-Spannungen gerecht wird. Nicht minder eindrucksvoll ist der sonore Kreon von David Kang. Deborah Saffery kann Haimon und Tiresias gleichermaßen ein glutvolles Charisma geben. Antigones große Arie kommt als Da-capo-Arie im Barock-Stil daher. Hier kann sich Alice Rossis weiträumige und voluminöse Sopranstimme mit glutvollen Kantilenen in ausgezeichneter Weise entfalten.


Chor der Bürgerinnen, David Kang. Foto: Martin Sigmund

Gerade bei den Ensembleszenen erreicht diese Aufführung eine ungewöhnlich starke melodische Intensität. „Unheimlich dämonisch ist viel, doch nichts ist so unheimlich und dämonisch wie der Mensch“, lautet dabei die Devise, die verzerrte und verfremdete Stimmen aus dem Off immer wieder skandieren. Antigone tritt dabei zwischen zerklüfteten Felsen gleichsam als Untote auf, die mit ihrer Vergangenheit gebrochen hat. Leo Dicks vielschichtige Musik lebt von Brüchen in der Erlebniszeit. Vieles wirkt schroff und unvermittelt – und der von Eleonora Siciliano nuancenreich einstudierte Chor der Bürger (Paco Aldeguer, Ulrike Dengler, Birgit Filzek, Christiane Frey, Hilmar Friedel, Erika Hahn, Andrea Häuser, Anna Holzhammer, Wolf Liebermann, Sarah Panten, Runi Reinhard, Ronja Schweizer, Werner Stein) entfaltet einen mitreissenden gesanglichen Strom, der das Publikum mit sich fortzieht.

Die Wiederholung im Rahmen der Rhetorik wird dabei vom Komponisten immer wieder erneut herausgestellt. Vielleicht könnten die dramatischen Effekte der Handlung in der Musik auch noch aufwühlender und eindringlicher betont werden. So aber überwiegen die kammermusikalischen Akzente umso mehr. Christopher Schmitz arbeitet jedes Detail der Partitur mit dem Staatsorchester Stuttgart minuziös und sensibel heraus. So lässt er auch den Sängern bei ihren schwierigen Partien genügend Freiraum. Mit Vuvuzelas bläst der Chor zuletzt zum „Jüngsten Gericht“. Da kommt Endzeitstimmung auf. Die Furcht vor dem nahen Tode ist Antigone in der packenden Darstellung von Alice Rossi deutlich anzumerken. Harmonische Durchformung und innerer Gehalt bilden dabei keine Gegensätze. Echoblasen und Filterkammern im Internet schaffen hier eine zuweilen sogar beängstigende Atmosphäre. Der Sound dieser Klangsphären wirkt betörend und sogar narkotisierend. Begeisterung gab es am Schluss für dieses gelungene Debüt von Alice Rossi in der Titelrolle sowie für das gesamte Ensemble. 

Alexander Walther

 

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