
Chor der BürgerInnen. Foto: Martin Sigmund
Als europäisches Musiktheater-Projekt überrascht diese Produktion in der Regie von Blanka Radoczy aufgrund einer ungewöhnlichen Sichtweise. Denn anders als bei Sophokles bieten Slavoj Zizeks Theaterstück und Leo Dicks Musiktheaer dem Publikum alternative Ausgänge dieses berühmten Stückes. Und dreimal wird der Widerstand Antigones gegen jede staatspolitische Vernunft zu einem anderen Ende geführt. „Wir sind nur Schatten“, lautet hier das vielsagende Motto. Der Chor, das Volk kommentieren dabei das Geschehen nicht nur, sondern werden selbst zum Akteur. Es werden immer wieder bohrende Fragen nach dem Erhalt, der Veränderung, der Auflösung und der radikalen Neuerschaffung politischer Ordnung gestellt. Die unsichere Zukunft Europas steht hier im Zentrum. Carina Schmieger aus dem Opernstudio der Staatsoper Stuttgart debütiert hier als Antigone mit farbenreichem Timbre und strahlkräftiger Höhe. Anklänge an barocke Da-capo-Arien im Stil A-B-A lassen sich immer wieder erkennen. Der koreanische Bassist David Kang singt ausdrucksvoll und gesanglich voluminös die Rolle des Kreon. Ida Ränzlöv interpretiert alternierend mit Deborah Saffery sehr suggestiv die Rolle des Haimon und Teiresias. Wichtig ist bei dieser ungewöhnlichen Produktion der Chor der Bürger und Bürgerinnen mit 20 Menschen zwischen 15 und 76 Jahren. Die Choristen repräsentieren hier aber nicht nur das Volk, sondern werden selbst zu emotionalen Akteuren. Sie fungieren als wichtige Botschafter des Stückes in die Stadt hinein.
David Kang (Kreon). Foto: Martin Sigmund
Das Werk von Leo Dick arbeitet virtuos mit Echokammern und subtilen Wiederholungen, die sich immer weiter auffächern. Die hervorragenden Musiker des Staatsorchesters Stuttgart unter der souveränen Leitung von Christopher Schmitz sitzen hinter Gittern und in einem Mauervorsprung. Zerklüftete Mauern sieht man auch auf der Bühne, die mit Drahtgittern durchsetzt ist. Ganz im Hintergrund erkennt man auch vereinzelt Bäume. Gleich zu Beginn fällt ein grelles Trompetensignal besonders auf. Zuweilen erinnern die Marschrhythmen und Chorpassagen ganz entfernt an die Stücke von Bertolt Brecht und Kurt Weill. Pizzicato-Passagen der Streicher werden von Xylophon-Klängen, wilder Chromatik und Glissando-Passagen begleitet. Unisono-Sequenzen geben dem Streicherapparat auch eine ungewöhnliche Intensität. Christopher Schmitz arbeitet als Dirigent die akustischen Reize dieser komplizierten Partitur ausgezeichnet heraus. Staccato-Attacken und Tremolo-Passagen begleiten das seltsame Motto dieser Arbeit: „Unheimlich dämonisch ist viel, doch nichts ist so unheimlich und dämonisch wie der Mensch.“ Die Bürger tanzen bacchantisch hund mänadenhaft um Antigone herum, die zuletzt wie König Kreon vom Volk zum Tode verurteilt wird: „Du bist an allem schuld!“ Die Anklagen des Teiresias besitzen zugleich eine gewaltige Wucht und ein glühendes harmonisches Feuer, das immer weiter angefacht wird. Zwischen diesen facettenhaften Klangcollagen kann sich Antigone aus ihrem Gefängnis nicht befreien. Sie ist der wütenden Menge ausgeliefert.
Doch es werden auch drei verschiedene Handlungen angeboten: Antigone hat sich umgebracht. Haimon versucht, seinen Vater zu töten. Es gelingt ihm nicht und er tötet sich selbst. Kreon bleibt als lebender Toter zurück („Gemeinwohl“). Beim zweiten Teil „Ungeschriebenes Gesetz“ einigen sich Antigone und Kreon. Polyneikes wird beerdigt. Das Volk legt aber Theben in Schutt und Asche. Kreon und Haimon werden getötet. Antigone bleibt als lebende Tote zurück. Beim dritten Teil „Volksherrschaft“ tötet das Volk Kreon und Antigone. Haimon tötet sich selbst.