Kammeroper „Icaro“ von Alessandro Baticci in der Jungen Oper im Nord am 16.12.2023/STUTTGART
Räumliche Verzerrung
Foto: Matthias Baus
Natürlich handelt auch diese intensive Kammeroper des 1991 in Mailand geborenen Komponisten Alessandro Baticci von der griechischen Sage über Ikarus, den die Sehnsucht, fliegen zu können in den Tod trieb. Da wird von Jugendlichen erzählt, die ungesichert auf Hochhäuser klettern und das Dunkel der Nacht nutzen. Sie wollen sich nicht erwischen lassen, bis an den äussersten Rand gehen und ihr Herz klopfen hören. Sinnliche Erfahrungen werden in dieser Oper für zwei Sänger deutlich. Alessandro Baticci berichtet selbst von seiner Höhenangst, erzählt von Roofern, die sich öffentliche Räume wieder aneignen. Das wird auch in Regie, Bühne, Licht- und Videokonzept von Alexander Fahima und Lisa Behensky deutlich. Das Libretto stammt von Gabrielė Bakšytė und Franziska Betz Die Mythologie hat hier durchaus etwas zu sagen, entfaltet magische Wirkungskraft. Es gibt hier keinen öffentlichen Raum, an dem man sich wirklich frei fühlt. Die Höhe und Vertikalität wird dabei in durchaus reizvoller Weise abgebildet.
Die ersten 40 Minuten dieses Werkes sind in kühnen Spiralen komponiert, die sich in der Tonhöhe und im Tempo immer höher hinaufschrauben. Hohe Flageolett-Töne in den Streichinstrumenten eröffnen dabei aufregende neue Klangperspektiven. Es kommt zur Wahrnehmung dynamischer Extremmomente, das Gefühl einer ständigen Steigerung wird dabei ganz bewusst erzeugt. Die Elektronik spielt dabei eine ganz entscheidende Rolle. Mikro- und Makro-Ebene vermischen sich, versinken manchmal in einer klanglichen Traumwelt, die von den intensiv spielenden Musikern des Staatsorchesters Stuttgart unter der einfühlsamen Leitung von Christopher Schumann im dunklen Raum mit Intensität erzeugt wird. Man spürt hier eine dunkle, unheimliche Agressivität. Andrea Conangla (Sopran) interpretiert Icaro in weitgespannten, elektrisierenden Intervallen – und Jacobo Ochoa (Bariton) erwidert ihre Kantilenen als Leon mit einem ausdrucksstarken Timbre. Als Statisten sind noch Maria Feil, Leaf Glock, Felix Horn, Dana Mazur Juliana Volk und Annika Wilstermann zu sehen.
Foto: Matthias Baus
Das Orchester ist nicht anwesend, sondern wird vorher aufgenommen und akustisch mit Elektronik und live singenden Stimmen zusammengemischt, was durchaus originell wirkt und neue musikalische Aspekte zeigt. Es kommt beim Zusammenspiel von Instrumenten und Elektronik zu einer frappierenden räumlichen und klanglichen Verzerrung. Mehrere Geigen scheinen zu spielen, der Klang wird vom Solo-Instrument mit der Lupe auf ein ganzes Orchester vergrößert. Die geheimnisvolle hohe Melodie scheint aus der Ferne zu kommen, was spannend ist. Logik und Fantasie kennzeichnen die subtile Regie von Alexander Fahima, die dieser eigentlich subversiven Musik optisch nachlauscht. Eine Folie ist der wesentliche Teil dieses Bühnenbildes, das Sehen wird thematisiert. Der Blick auf die Menschen dahinter wird zeitweise verstellt, überschrieben und in Frage gestellt. Texte, Sticker, Kritzeleien auf Bildern wandern zwischen Tiefe und Oberfläche hin und her. Das Material besteht aus Acryl und Polyethylen. Man denkt an kleine Lebewesen, aber auch an einen wuchernden Pilz. Andererseits meint man sogar das Ungeheuer von Loch Ness zu sehen. Man spürt außerdem, dass Alessandro Baticci auch Flötist ist. Selbst die elektronischen Klänge wirken zuweilen überaus filigran und fast schon hypnotisierend. Manchmal glaubt man Glissando-Effekte herauszuhören. Diese elektroakustischen Momente besitzen etwas Magisch-Bezwingendes. Zuletzt scheint alles in einer riesigen Nebelwolke zusammenzubrechen. Leon steht lachend alleine da. Der Zauber ist erloschen.
Begeisterung im Publikum.
Alexander Walther