STUTTGART
„NOVERRE – JUNGE CHOREOGRAPHEN 2019 “ 06.06.2019 – Neuauftakt auf weiterhin hohem Niveau
Der neue Intendant des Stuttgarter Balletts Tamas Detrich hat glücklicherweise sein Versprechen gehalten und nach der im letzten Jahr überraschenden Auflösung der Noverre-Gesellschaft, die einst die erste „Choreographenplattform“ der Welt zur Förderung der jungen Talente ins Leben gerufen hatte, den Junge Choreographen-Abend zum nun 58. Mal unter dem Dach des Stuttgarter Balletts fortgeführt. Keine geringeren Namen als John Neumeier, Jiří Kylián, William Forsythe, Uwe Scholz, jüngst Christian Spuck, Marco Goecke, Demis Volpi u. v. m. haben hier in der Vergangenheit ihre ersten Werke kreiert.
Sonia Santiago, ehemalige stellvertretende Vereinsvorsitzende für die Noverre-Gesellschaft, hat nun beim Stuttgarter Ballett die Projektleitung übernommen. Dabei achtet sie u. a. auch auf ein ausgewogenes Verhältnis bei der Auswahl der Choreographen und dass Stuttgarter Tänzer Priorität haben – mehr als drei Künstler von außen sollen nicht dabei sein. Zehn Kreationen von elf Choreographen wurden dieses Jahr präsentiert, neben Pas de deux und Pas de trois auch mehrere Stücke für Gruppen, was für Anfänger erstaunlich ist und von zunehmendem Vertrauen der jungen Choreographen zeugt. Diese durften erstmals durch Einspielung von Audioaufnahmen jeweils vor Beginn, ihrer Werke selbst einführen, was dem Publikum sicher ermöglichte, sich in die Stücke besser hineinzuversetzen.
Auch dieses Jahr sind einige „Wiederholungstäter“ dabei, wobei Aurora de Mori, die wie bereits im letzten Jahr, den Auftakt gibt, mit ihrer vierten Choreographie sicher zu den erfahrensten zählt. Bereits als Elevin präsentierte sie hier 2016 ihr erstes Stück und ihre Entwicklung und Ideenreichtum überzeugten immer wieder. „Pompei“ heißt ihr Werk dieses Jahr und ist von der Geschichte der italienischen Stadt inspiriert, die durch einen Vesuvausbruch verschüttet und erst Jahrhunderte später durch Ausgrabungen wieder entdeckt wurde.
Daiana Ruiz als befreiter Geist in „Pompei“ von Aurora de Mori Foto: Stuttgarter Ballett
Die kurze Choreographie für sechs Tänzer hebt wie bereits „Quintessenz der Vielfalt“ im letzten Jahr Moris Fähigkeit, den Inhalt auf das Wesentliche zu reduzieren, hervor. Der erste Teil stellt die antike Blütezeit der Stadt dar, mit großen Bewegungen und Posen wie von Statuen, auf „O Fortuna“ aus „Carmina Burana“ von Carl Orff. Danach symbolisieren zwei Leinwände im Hintergrund, durch die sich Körper, Hände und Füße versuchen, nach vorne zu drücken, die verschüttete Stadt dar, die lange darauf wartete, wieder entdeckt zu werden. Vor den Leinwänden tanzen die symbolisch nach der Ausgrabung befreiten und somit versöhnten Geister: Tänzer in hautengen Trikots mit grauen Schattierungen, im Nebel und mit langsamen Bewegungen, teils wie in Zeitlupe, auf das dafür ebenfalls sehr stimmige Stück von George Bizet „Je crois entendre encore“ aus „Die Perlenfischer“. Es bleibt spannend, ob Mori in eine der nächsten Spielzeiten ein Stück für einen der Ballettabende kreieren darf. Das Zeug dazu scheint sie zu haben, wenn auch ihre Stücke dafür sicher ausführlicher ausfallen können.
Mit „B-Side“ gibt der Gruppentänzer Timoor Afshar sein Debüt als Choreograph, wobei er bei Noverre-Abenden nun bereits zum dritten Mal selbst tanzt, wie auch heute Abend. Das Stück für zwei Tänzerinnen und einen Tänzer soll Einblick in die dunkle Seite der menschlichen Psyche, die Schattenseite, geben. Als Bühnenbild dient schlicht ein Tisch, auf dem ein altes Grammophon steht, vor dem sich das Drama abspielt. Leidenschaftliche Bewegungen begleiten das Stück, teils jedoch auch ruckartiges Ziehen und Schieben, die von Brutalität zeugen. So ist das in einem Trio, wenn zwei davon zusammenkommen, am Ende fällt die Dritte ohnmächtig zu Boden. Ein beachtliches Debüt das Amerikaners, sicher auch den Tänzern – Solist Ciro Ernesto Mansilla und Gruppentänzerinnen Paula Rezende und Annouk van der Weijde zu verdanken.
Ebenfalls zum ersten Mal präsentiert die Halbsolistin Agnes Su ein Stück bei Noverre, „White Light“, in dem sie auch selbst tanzt, auf „Pavanne pour une infante défunte“ von Maurice Ravel. Am meisten in Erinnerung bleibt vermutlich die originelle Idee der Amerikanerin, die Farben rot, grün und blau vermischt in weißes Licht fließen zu lassen. Zunächst „strahlen“ die drei Farben zuerst selbstständig in verschiedenen Posen, werden danach kurz von Regenbogen-Farben eingefangen, um sich dann mit wellenförmigen Arm- und Körperbewegungen ineinander zu umschlingen und in weißem Licht zu vereinigen. Neben Su in blau, strahlen noch ausdrucksstark der Solist Adhonay Soares da Silva in grün und Gruppentänzerin Minji Nam in rot.
„Just Sometimes“ heißt das bereits dritte Stück des italienischen Gruppentänzers Alessandro Giaquinto bei Noverre-Abenden. Die Essenz: nur manchmal sind wir offen und empfindlich genug für die Wahrheit, die eigenen Gefühle und die der anderen. In grauen Hosen, die Herren mit nacktem Oberkörper, die Damen in originellen Shirts aus weißen Stoffstreifen, entfalten die Tänzer eine Geschichte, u. a. vor blendenden Scheinwerfern und begleitet von Zugsignalen, die nicht immer verständlich ist. Da hat sein „Alba Mendax“ letztes Jahr mehr überzeugt.
Der ehemalige langjährige Solist des Stuttgarter Balletts und Publikumsliebling Marijn Rademaker kehrt nun aus seiner holländischen Heimat zurück um zusammen mit dem italienischen Gruppentänzer des Stuttgarter Balletts Matteo Miccini als Choreograph zu debütieren. „What we’ve been telling you“, auf „Fantasie in f-Moll“ von Franz Schubert, live im Hintergrund am Klavier gespielt von Catelijne Smit und Paul Lewis, wird auch von den beiden interpretiert und ist ein gelungener und unterhaltsamer Pas de deux über Beziehungen, der allerdings sowohl von der Ausstattung mit Klavier auf der Bühne sowie auch von der Choreographie her an ähnliche Stücke wie „Ssss…“ von Edward Clug erinnert, für die auch eine Hauptrolle für Rademaker kreiert wurde.
Der zweite Teil des Abends beginnt ebenfalls mit einem Debüt, diesmal des Gruppentänzers Fraser Roach. Der Brite wagt sich mit „Demon Days“ gleich an ein Stück für zehn Tänzer und überrascht mit Originalität und viel Humor. Die Handlung gleicht der in einer Irrenanstalt, scheinbar unter dem Einfluss des Teufels, der im schwarzen Umhang Unheil und Schrecken unter den Insassen verbreitet. Doch dann wird er seitlich der Bühne nach oben gezogen, um dann zur Mitte zu wandern, den Umhang zu verlieren und als Engel im weißen Gewand und mit goldener Krone wieder herunterzukommen. Sowas dulden die Irren jedoch nicht lange, überfallen den Engel und lassen ihn am Boden liegend wieder hinter den Vorhang verschwinden: die Bühne ist erneut frei für die Irren, die nun alleine „spinnen“ dürfen. Es wird viel gezogen, geschoben und geflogen in dem Stück, entsprechend auch viel gesprungen, ein wirklich gelungenes Debüt von Fraser Roach.
Dämonen und Engel gleichermaßen: Matteo Crockard-Villa und David Moore in „Demon Days“ von Fraser Roach. Foto: Stuttgarter Ballett
Die zweite Gastchoreographin des Abends, die Polin Lucyna Zwolinska, zeigte mit „Trying to breath“ einen Pas de trois der 2018 im Rahmen des Künstlerresidenzprogrammes Think Big vom Ballett der Staatsoper Hannover entstanden ist. Ein aufwühlendes Stück über die Fragilität des Menschen und was passieren kann, wenn man die Maske oder seinen Schutz – in dem Fall die Jacke mit Kapuze – verliert. Shaked Heller setzt sich anfangs mit Maske noch erfolgreich zur Wehr, sobald er diese verliert, wird es jedoch von Matteo Miccini und Louis Stiens gnadenlos erniedrigt. Kein leichtes Stück, jedoch gekonnt in Szene gesetzt.
Die aus London stammende freiberufliche Künstlerin Morgann Runacre-Temple hat bereits einige Erfahrung als Choreographin und auch schon mehrere Tanzfilme gedreht, bei Noverre zeigte sie jedoch zum ersten Mal ein Stück. In eigenen Worten bedeutet Choreographieren für sie das Bedürfnis, etwas zu lösen, eine Geschichte zu erzählen, ihr Bedeutung und Struktur zu geben. Welche diese genau in „Rosie fällt“ ist, erschließt sich dem Publikum nicht ganz, dennoch ist es ein ausdrucksstarkes Stück, sicher auch dank der hochkarätigen Besetzung durch die Ersten Solisten Hyo-Jung Kang, erneut Adhonay Soares da Silva und Ciro Ernesto Mansilla sowie Gruppentänzer Christian Pforr.
„Polosma“ ist bei Noverre das zweite Stück von Shaked Heller und erinnert an seine Choreographie vom Vorjahr („Arpatruf“, die übrigens gleich ins Repertoire des Stuttgarter Balletts übernommen wurde), sowohl durch die Musikauswahl mit Folklore als auch durch die verwendeten Schrittfolgen. In durchsichtigen weißen Overalls tanzen sechs Tänzer zu gleichmäßigen, scheinbar monotonen Rhythmen, doch Heller gelingt es auch monotone Bewegungen lebendig wirken zu lassen. Nervöse Zuckungen und Sprünge wechseln sich mit gleichmäßigen und fließenden Bewegungen ab. Auch hier ist keine klare Botschaft zu erkennen, Heller sagt vor dem Stück auch nicht viel dazu, dennoch ist seine Kreation in gewisser Weise faszinierend. Gerne wünscht man sich vom jungen Israeli mehr davon, vielleicht mit etwas mehr erkennbarer Substanz.
Den Abschluss des Abends macht „Many a Moon“ vom Armenier Armen Arturi, derzeit Ballettmeister beim Aalto Ballett in Essen. Der Titel soll nach Arturis Worten „vor langer Zeit“ bedeuten, der Inhalt des Stückes habe jedenfalls viel mit Zeit zu tun. Zeitweise schneit es auch wie weißen Staub von oben, vielleicht als Symbol der Vergänglichkeit. Die Herren in Fracks ohne Hemd, dessen Jacken sie sich später entledigen, werden von Damen begleitet, deren Trikots eleganten Abendkleidern nachempfunden sind, jedoch ohne Rock. Stilistisch klassisch-modern und elegant auch die Bewegungssprache. Dem Choreographen fiel es schwer, über sein Stück zu sprechen und in der Tat ist es nicht einfach, Worte dafür zu finden. Wichtiger ist die Stimmung, die es verbreitet, sie nimmt das Publikum tatsächlich wie auf eine kleine Zeitreise mit oder regt zur Kontemplation über die Bedeutung von Zeit an. Wie Runacre-Temple hat Arturi bereits einige Erfahrung als Choreograph, dennoch erklärte er in seiner Botschaft, sehr geehrt zu sein, sein Stück im Rahmen einer Plattform wie Noverre, das Sprungbrett für so viele nun weltbekannte Choreographen darstellt, präsentieren zu können. Bescheidenheit hätte Arturi jedoch nicht benötigt, sein Stück ist mit Sicherheit das reifste des Abends und somit krönender Abschluss.
Daniele Silingardi, Clemens Fröhlich und Timoor Afshar auf einer Reise durch die Zeit in „Many a Moon“ von Armen Arturi Foto: Stuttgarter Ballett
Wie immer wäre so ein Abend nicht möglich, ohne den unermüdlichen Einsatz der Tänzer des Stuttgarter Balletts, die in einer herausfordernden Spielzeit zusätzlich noch in ihrer Freizeit dafür probten. Neben den bereits erwähnten Tänzer unterstützten noch Aiara Iturrioz Rico, Martina Marin, Daiana Ruiz, Martí Fernández Paixá, Flemming Puthenpurayil, Vittoria Girelli, Diana Ionescu, Timoor Afshar, Martino Semenzato, Elisa Badenes, Maria Andrés Betoret, Sinéad Brod, Elisa Ghisalberti, Kieran Brooks, Matteo Crockard-Villa, Christopher Kunzelmann, David Moore, Cédric Rupp, Daniele Silingardi, Viktoria Byczkowska, Angelina Zuccarini, Alicia Garcia Torronterras, Veronika Verterich und Clemens Fröhlich die jungen Choreographen.
Nicht alles war verständlich, choreographisch auch nichts bahnbrechend oder neu dabei, dennoch verdienter Maßen viel Beifall für die jungen Choreographen, für ein Programm auf erneut hohem Niveau, das locker auch als Ballettabend mithalten könnte. Kein Wunder waren wieder beide Abende ausverkauft und man kann bereits gespannt sein auf das Programm vom nächsten Jahr. Dana Marta