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STUTTGART: IPHIGÉNIE EN TAURIDE von Christoph Willibald Gluck. Premiere

Eine Kette traumatischer Ereignisse

29.04.2019 | Oper

 


Renate Jett, Amanda Majewski. Foto: Martin Sigmund

Christoph Willibald Glucks  „Iphigenie en Tauride“ am 28.4.2019 in der Staatsoper/STUTTGART

EINE KETTE TRAUMATISCHER EREIGNISSE

 Für Richard Wagner war Gluck ein großer Opernreformator, der ihn nachhaltig beeinflusste. In Glucks Oper „Iphigenie en Tauride“ („Iphigenie auf Tauris“) geht es um Mord im Namen der Götter, Mord aus Rache und Rache für den Mord. In ihrem Exil auf Tauris muss Iphigenie als Priesterin der Artemis alle Fremden opfern, die hier landen. Als ein traumatisierter Fremder auftaucht, stürzt sie dies in zahlreiche Gewissensfragen. In Krzysztof Warlikowskis Inszenierung liegen die traumatischen Ereignisse in weiter Ferne. Nachdem Iphigenie wie durch ein Wunder der Opferung durch ihren Vater Agamemnon entkommen ist, lebt sie im Reich des Königs Thoas. Einer der Fremden ist ihr totgeglaubter Bruder Orest, zu dem sie sich in inzestuöser Liebe hingezogen fühlt. In dieser Inszenierung hat Iphigenie ihr Exil in Tauris bereits vor Jahrzehnten verlassen. Zugleich hat sie diesem für sie traumatischen Ort nie ganz den Rücken gekehrt. In seiner Inszenierung stellt Warlikowski anstelle der griechischen Priesterinnen einen stummen Chor älterer Damen an die Seite der Titelheldin. Dabei spiegeln sich die Lebenswege dieser wie apathisch hin- und herschreitenden Seniorinnen in Glucks Oper wider, was auch den besonderen visuellen Reiz dieser Inszenierung ausmacht. In Video-Sequenzen von Denis Gueguin sieht man drastische Opferszenen. Bühne und Kostüme von Malgorzata Szczesniak spielen mit dem weiten Bühnenraum einerseits, werden aber auch andererseits dem Szenarium des Altenheims gerecht. Die Zeit scheint immer wieder stehen geblieben zu sein. Der barbarische Ort befindet sich möglichst weit von zu Hause weg. Iphigenie selbst lebt hier in einem Altersheim und wird von den Geistern der Vergangenheit besucht. Die Verluste durch den Krieg schaffen eine zeitliche Distanz. So ist ein Bühnenbild mit sehr vielen Zeiten und Orten entstanden, dem allerdings zuweilen große Visionen fehlen. Das Mysteriöse des „Reigens der seligen Geister“ oder die Dämonie des von E.T.A. Hoffmann gepriesenen „Ritter Gluck“ sucht man vergebens. Man sieht auch rote Lampen, Rolläden. Aber das alles wirkt doch sehr realistisch. Die gesamte Bühne wird in eine Spiegelwand „getaucht“, man sieht plötzlich den gewaltig wirkenden Zuschauerraum der Staatsoper. Diese magischen und gelungenen Bilder schaffen eine riesige Brücke zur Moderne, spielen virtuos mit dem Unterbewusstsein der Protagonisten. Iphigenie wird plötzlich nach Tauris gebeamt.

Es folgt eine durchaus raffinierte Auflösung in größere szenische Komplexe. Auch die Empore wird für dramatische szenische Einlagen wirkungsvoll genutzt. So kommt es zuletzt doch noch zum ergreifenden Happy End: Die Göttin Diana greift ein, verhindert ein Massaker der Griechen an Thoas‘ Volk und verkündet schließlich den Willen der Götter. Orest erlangt Entsühnung für den Muttermord. Er soll mit seiner Schwester Iphigenie nach Mykene zurückreisen. Man feiert in Jubelchören den Frieden.


Jarrett Ott, Elmar Gilbertsson, Gezim Myshketa. Foto: Martin Sigmund

Unter der impulsiven Leitung von Stefano Montanari musiziert das Staatsorchester Stuttgart sehr feurig und glutvoll. So entsteht ein Bild von antiker Größe. Die kurze szenische Ouvertüre entführt das Publikum rasch und sehr zügig in ein atemlos-drastisches Geschehen. Vor allem die Sturmschilderung gelingt Montanari ausgezeichnet. So können sich die vokalen Kräfte der Sänger gut entfalten. Amanda Majeski gelingt es als Iphigenie, ihren Kantilenen viele verschiedene Klangfarben zu entlocken. Die berühmte Traumerzählung der Iphigenie überzeugt in der Darstellung von Amanda Majeski auch aufgrund des großen Charakterisierungsreichtums dieser Sängerin, die sich vor allem in der Schluss-Szene bei ihrer Rolle völlig verausgabt. Der Barbar Thoas wird von Gezim Myshketa mit robustem und gewaltigem Bass dargestellt. Jarrett Ott verkörpert Orest mit wandlungsfähigem und glutvollem Bariton. Renate Jett mimt Iphigenie gleichzeitig als versierte Schauspielerin. Elmar Gilbertsson gestaltet Pylade mit höhensicherem Tenor. Carina Schmieger singt die Göttin Diane voller Emphase. Elliott Carlton Hines gestaltet den Skythen sowie Aufseher des Thoas und Ida Ränzlöv die Griechin und Priesterin ausdrucksvoll. Die Bewohnerinnen eines Altenheimes zeigen mit Claudette Walker (Tanz), Ute Arnold, Babette Kage, Anne von Kesteren, Jutta Müller, Herma Perkams, Hanne Rosenheimer, Ilse Rucki und Annelore Schuck allesamt überzeugendes Profil. Im zweiten Akt erhält vor allem Jarrett Ott als Muttermörder Orest starke Konturen. Die atemlosen Begleitfiguren des Orchesters fesseln bei seiner Arie „Der Frieden kehret in mein Herz“. Als „Hohelied der Freundschaft“ erscheint dann wahrhaftig der dritte Akt. Und auch die Erkennungsszene führt zu einer weiteren dramatischen Steigerung, die das Publikum ungemein beeindruckt.

Ganz hervorragend hat Bernhard Moncado den Staatsopernchor Stuttgart einstudiert. Die gewaltige Familientragödie der Atriden gewinnt mit den fesselnden Darstellern Dorothea Baltzer (Klytämnestra), Joshua Taake (Der junge Orest), Konrad Lucas (Agamemnon), Xenia Leonhard (Elektra), Lea Etgeton (Chrysothemis) und Xavier Jahn (Achill) weiteres Profil. Der Mord an Agamemnon wird durch die Videoaufnahmen in ein ungeheures  Licht getaucht. Da gewinnt die Inszenierung von Krzysztof Warlikowski (szenische Einstudierung: Jorinde Keesmaat; Choreographie: Claude Bardouil) deutliches Profil. In weiteren Rollen überzeugen ferner Rakim Balici, Andrea Köroglu, Johannes Schropp (Wochen) sowie Myra Bondad und Nina Wilfert (Pflegerinnen).

Diese Produktion der Opera national de Paris lebt vor allem von ihrer großen musikalischen Qualität, die den genialen Musikdramatiker Christoph Willibald Gluck packend herausstellt. Die Schlagfertigkeit des harmonischen Zuschnitts kommt dabei treffsicher zur Wirkung, denn  Stefano Montanari legt dem Staatsorchester Stuttgart für diesen feurigen Ritt durch einen zukunftsweisenden Notendschungel straffe Zügel an. Gleichzeitig glückt es vor allem Amanda Majeski, die Tiefe des Charakters der Iphigenie bedeutungsvoll zu betonen. Dies zeigt sich vor allem dann, wenn sie dem Chor der Priesterinnen einen Traum erzählt, in dem sie das Schicksal ihres Hauses enthüllt. Auch die Opfergesänge der Priesterinnen zeigen den 65jährigen Gluck hier auf der absoluten Höhe seiner Kunst. Die Musik wirkt nirgends starr oder erfindungslos, es klingt alles frisch und ungestüm. Auch die lyrische Beschaulichkeit der einzelnen Arien kommt dank Stefano Montanari nicht zu kurz. Das kurze D-Dur-Andante der Einleitung überrascht mit sprühendem Esprit. Damit wird die Stille des Meeres angedeutet („La calme“). Im Allegro zeigt sich brausend der Sturm, der die Priesterinnen erschreckt. Flöten, Oboen, Fagotte, Hörner, Trompeten und Pauken beschwören einen unruhigen Kosmos. Amanda Majeski lässt als Iphigenie ausgezeichnet den Anruf mit sichertreffendem Rhythmus und Tonfall zum Himmel emporragen. Der e-Moll-Chor der Priesterinnen schließt dann eindringlich ab, was die Oboe zuvor berichtete. Auch die h-Moll-Arie des Thoas besitzt wildes Feuer und beschreibt den seelischen Druck wirkungsvoll. Das Finale schwankt immer wieder zwischen c-Moll und C-Dur, um dann doch den Dur-Sieg davonzutragen. Man sieht zuletzt, wie die Greisinnen in aller Ruhe Kuchen essen. Dieses Bild entbehrt nicht einer gewissen Ironie, die die Stimmung merklich aufhellt. Zuletzt gab es einhelligen Jubel für das Produktionsteam.

Alexander Walther

 

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