CHROMATISCHE AUFGÄNGE WIE IN DER APOKALYPSE
Abschlusskonzert der Sommerakademie in der Akademie Schloss Solitude am 20. August 2017 mit Musik-Stipendiaten/GERLINGEN (bei Stuttgart)
Seit 2003 veranstaltet die Akademie Schloss Solitude alle zwei Jahre eine Meisterklasse für junge Komponistinnen und Komponisten. Eine Wiederbegegnung mit begabten Stipendiaten der Akademie Schloss Solitude gab es deshalb am Wochenende. Gleich zu Beginn gefiel als Uraufführung die Komposition „Orchid“ für Klarinette, Schlagzeug, Synthesizer, Streichtrio und Elektronik (2017) des türkischen Komponisten Murat Colak. Türkische Kunst-, Folk- und geistliche Musik wird hier mit elektronischer Tanzmusik, Heavy Metal und Hip Hop kunstvoll vermischt. Verdichtung spielt bei diesem Werk eine große Rolle. Colak verwendet Material der Komposition „Jeden Tag warte ich an diesen Ufern“ von Ismail Hakki Nebioglu, außerdem erklingt versteckt Musik der türkischen Sängerin Bulent Ersoy und der schwedischen Band Opeth. Kaum weniger eindringlich, dafür aber klanglich umso spärlicher erscheint „Gouache“ für Klavier (2014) des israelischen Komponisten Bnaya Halperin-Kaddari, der die metallenen Saiten des Klaviers auf einem Stahlskelett erkundet. Wellenlängen verlieren sich hier in einem irisierenden Farbenspiel, ein Begleiter vertreibt die Einsamkeit des Reiters. „Rising Tide“ (2015) von Nina C. Young für Flöte, Klarinette, Schlagzeug, Klavier, Violine, Viola und Violoncello beschäftigt sich in eindringlicher Weise mit den Planeten, die Energie fürs Leben bringen. Klimawandel, schmelzende Gletscher und ansteigende Meeresspiegel werden harmonisch in vielfältiger Weise thematisiert. Waldgeister in den üppigen Wäldern Japans spielen bei der Komposition „moss…lichen…kodama purr…“ (2017) für Flöte, Klarinette, Klavier, Violine, Violoncello und Ventilatoren von Mu-Xuan Lin aus Taiwan (USA) eine Rolle, wobei selbst Mundgeräusche bei den Instrumenten facettenreich und kunstvoll eingesetzt werden. Zierliche Windungen ziehen sich dabei fein durch den Wintergarten, was die Instrumente minuziös verdeutlichen. Hier spürt man, dass das Werk von einer Frau stammt. Auch der Finne Matti Heininen präsentiert bei „Spettrale“ (2017) für Klavier, Oboe und Schlagzeug als Uraufführung eine weitere ungewöhnliche Talentprobe. Der Titel des Werkes bedeutet gleichermaßen „gespenstisch“ oder „spektral“. Nach einem dichten Beginn agieren die Ausführenden als subtile Kontrolleure des Klangs mit unterschwelligen Widerspiegelungen der Vergangenheit. Die Komposition „Acupuncture“ (2014) von Justina Repeckaite für Piccoloflöte, Altflöte, Klarinette, Bassklarinette, Klavier, Violine, Viola und Violoncello erkundet Soundattacken zwischen verschiedenen Klängen und Bewegung. Glissando-Effekte stechen dabei deutlich hervor. In vielen Schichten wird hier die musikalische Struktur beleuchtet. Polyphone Linien verteilen sich auf jedes einzelne Instrument. Das Stück „Elevations“ (2017) für Flöte, Oboe, Klarinette, Marimba, Klavier, Violine, Viola, Violoncello und Kontrabass des finnischen Komponisten Jarkko Hartikainen formt das musikalische Material zwischen Assoziationen des Aufsteigens und der Transzendenz. Bei Flageolett-Tönen, Multiphonie und sprunghaften Intervallen zeigt der Kompositionsprozess immer wieder neue Nuancen und Facetten. Am überzeugendsten war bei diesem Konzert allerdings das Stück „To the Woman Going Up the Escalator at Columbus Circle at Five-Thirty Last Evening“ (2017) für Flöte, Oboe, Klarinette, Schlagzeug, Klavier, Violine, Viola, Violoncello und Kontrabass nach einem kurzen Gedicht von Andrea Cohen von Peter Fahey (USA). Chromatische Auf- und Abwärtsbewegungen kennzeichnen dabei den Stil von Harmonie, Rhythmus, Struktur und Form. Tremolo-Passagen der Streicher sowie Glocken- und Paukenwirbel unterstrichen die musikalische Apokalypse bei dieser weiteren interessanten Uraufführung. Und das Ensemble SurPlus mit Beverley Ellis (Violoncello), Stefan Häussler (Violine), Christian Kemper (Oboe), Sven Kestel (Kontrabass), Daniel Lorenzo (Klavier), Irmela Roelcke (Klavier), Martina Roth (Flöte), Sylvia Schmückle-Wagner (Klarinette), Olaf Tzschoppe (Schlagzeug), Erich Wagner (Dirigent/Klarinette) und Sophie Wahlmüller (Viola) musizierte wie aus einem Guss. Jubel für die hoffnungsvollen Stipendiaten.
Alexander Walther