Mitreißendes Ensemble in „Swan Cake“. Copyright: Jeannette Bak
Stuttgart: Gauthier Dance
„SWAN LAKES“ 25.6. 2021 im Theaterhaus (Premiere 24.6.) – weit hergeholte Bezüge
Nach dem als stream gezeigten Projekt „Dying Swans“ im April kamen nun die bereits für das letztjährige Colours Festival geplanten Phantasien zum wohl berühmtesten Stoff der Ballettgeschichte unter der schlichten Bezeichnung „Schwanenseen“ live und endlich wieder vor Publikum auf die Bühne des Theaterhauses. Dem unermüdlichen Compagniechef Eric Gauthier ist es dafür gelungen vier ChoreographInnen zu gewinnen, die allesamt durch eine besondere Stellung bzw. stilistische Exzentrik Wegmarken in der jüngeren Tanzentwicklung gesetzt haben. Zwei davon sind gar Hauschoreographen des rührigen Ensembles oder wie das heute „Artist in residence“ heißt.
Am Anfang des Programms steht mit „UNTITLED FOR 7 DANCERS“ eine Arbeit des Spaniers Cayetano Soto, der für Gauthier Dance bereits zwei beliebte Choreographien geschaffen hat. Sein Zentrum ist die Verwandlung vom Menschen zum Tier, von der Frau zum Schwan. Diese Transformation innerhalb von rund 20 Minuten wird auf der Bühne durch eine digitale Zählmaschine angezeigt. Zwischen phasenweise von der Seite aufblendenden Scheinwerfern vollziehen 7 TänzerInnen in schwarzen netzartigen Ganzkörper-Trikots diesen Akt in überaus boden-verhafteten Sequenzen, teils in Schräglage, mit oft abgewinkelten Händen und gespreizten Fingern oder in einigen virtuos verschlungenen Duos bzw. Kleingruppen. Fast mehr als dieses doch etwas beliebige (der Titel deutet so etwas bereits an) und zu sehr im Geheimnisvollen verbleibende Tanzgeschehen fängt die von Peter Gregson geschaffene und von ihm selbst am Solocello eingespielte elektronische Klangwelt die Metamorphose des Themas ein. Da entsteht aus dumpfem Dröhnen wie aus dem Inneren der Erde eine immer mehr anschwellende und in höhere Tonbereiche vordringende Atmosphäre voller Magie, der der Tanz bei allem Einsatz seiner Interpreten nichts ähnlich Idiomatisches beisteuert.
Marie Chouinard, Kanadas radikale Avantgardistin mit zurück liegender Solo-Karriere und eigener Compagnie, brachte bereits 2015 ein Stück mit ihrem Ensemble beim damals ersten Durchgang des Colours Festival zur Uraufführung. Jetzt war sie gerne der Einladung für eine Arbeit für Gauthier Dance gefolgt und schuf mit „LE CHANT DU CYGNE: LE LAC“ den am deutlichsten einen Bezug zur Thematik aufweisenden Beitrag für 8 Tänzerinnen in weißen Tutus, die vor einem immer mehr auflodernden Flammen-Prospekt im Hintergrund wie schwimmend von der Seite herein tauchen, ehe sie jede mit einem ihnen zugedachten hellen hölzernen Quader als bestimmendem, wie ein Magnet anziehenden Element auf Spitze trippeln, seitlich kippen, sich neigend um den Quader hangeln, wieder aufrichten oder mit den Händen schwan-typische Kopfbewegungen imitieren. Auch hier übernimmt die elektronische Musik-Kulisse von Louis Dufort mit ihren einzelne Motive der klassischen Tschaikowsky-Komposition wie kreisend und nicht vom Fleck kommend verarbeitenden Schleifen eine wesentliche, nur eben hier ganz mit der szenischen Kreation zusammen findende Funktion. Ihrem Ruf als den Tanz als spirituelle Kunst feiernden Akt wird Chouinard hier vollauf gerecht.
„SHARA NUR“ nennt Marco Goecke seine neue Schöpfung, vom Mongolischen ins Deutsche übersetzt: gelber See. Allein darin liegt schon ein Geheimnis, wie über so viele seiner bisherigen Arbeiten. Deren unverwechselbare Zitter-Optik ist längst auf breitere Zustimmung gestoßen, einhergehend mit seiner immens gewachsenen internationalen Bekanntheit. Vier Tänzer und zwei Tänzerinnen gestalten hier seine Innovation zum Schwanensee-Thema, die allerdings sowohl im Tanz wie in den ausgewählten Songs von Björk und Jesse Callaert kein bisschen in klassische Gefilde vordringt. Stattdessen sehen wir eine immer neue Verzweigungen findende Ausartung der unverkennbaren nervösen Stilistik, die Tänzer in diesmal hellen Tops statt nackter Oberkörper. Die in seinem parallel für das Stuttgarter Ballett geschaffenen Pas de deux „Nachtmerrie“ erzielte Konzentration, fast erzählerische Dringlichkeit und inhaltliche Entwicklung lässt er hier leider wieder vermissen, so dass irgendwann der Moment des Zuviels und einer gewissen ermüdenden Länge entsteht. Da mögen die Ausführenden noch so genau diesen seltsamen Wegen von Schwanen-Schicksalen folgen.
Ungewöhnliche Schwäne in Marie Chouinards „Le chant du cygne. Copyright: Jeannette Bak
Als passender Abschluss stand „SWAN CAKE“ am richtigen Platz. Kurz vor der Premiere wurde Hofesh Shechters Bestellung zum zweiten Hauschoreographen bekannt, was eine immense Wertschätzung für Gauthier Dance bedeutet, denn der Israeli steht als ehemaliges Mitglied der legendären Batsheva Dance Company mit seiner ganz für sich allein stehenden Körperlichkeit und seinen selbst komponierten Soundtracks an der Spitze zeitgenössischer Tanzschöpfer. Nach zwei Gastspielbeiträgen beim Colours Festival entstand nun die erste eigene Kreation für das Stuttgarter Ensemble. Die acht TänzerInnen bilden in ihren bunten Kostümen weit entfernt von klassischer Schön- und Klarheit getriebene Wesen ohne festes Zentrum, aber voller Sehnsüchte und träumerischen Phantasien. Oberflächlich betrachtet muten sie wie ein unter wandernden Lichtkegeln in beständigem Rhythmus ausgelassen feierndes Völkchen an, angetrieben vom auf Dauer etwas eintönig lauten Elektronik-Sound. Das ist in der Hingabe der Mitwirkenden durchaus mitreißend, teils auch ansteckend, aber doch nur mit äußerst viel Phantasie mit der Thematik des Abends in Verbindung zu bringen. Dieser wurde letztlich nur Marie Chouinard gerecht.
Die Vereinigung verschiedenster Charaktere hat Gauthier Dance von Anfang an ausgezeichnet. Auch im jetzt auf 16 Mitglieder angewachsenen Ensemble wird dies deutlich. Da sie bei diesem Programm ganz als Ensemble eingesetzt sind, seien sie hiermit in aufgezählter Form geschlossen gewürdigt. Bruna Andrade, Louiza Avraam, Nora Brown, Andrew Cummings, Anneleen Dedroog, Alessio Marchini, Barbara Melo Freire, Luca Pannacci, Mark Sampson, Jonathan dos Santos, Izabela Szylinska, Sidney Elizabeth Turtschi, Shawn Wu, Shori Yamamoto sowie die drei als Gäste hinzu gekommenen Jonathan Reimann, Joaquin Angelucci und Gaetano Signorelli mögen verzeihen, dass Garazi Perez Oloriz aufgrund ihrer außergewöhnlichen Ausdrucksfähigkeit und der Goeckes Stil exorbitant gut beherrschende Theophilus Vesely herausgehoben erwähnt werden.
Auch hier wie beim Stuttgarter Ballett große Freude angesichts der lange vermissten Live-Begegnung und zuletzt von rhythmischem Klatschen getragene Begeisterung. Da darf die spontane Wirkung auch mal über die Qualität inhaltlicher Nachvollziehbarkeit siegen.
Udo Klebes