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STUTTGART/ Gauthier Dance: DYING SWANS – Tanzprojekt im Stream – später hoffentlich live!

20.04.2021 | Ballett/Performance

Gauthier Dance Stuttgart

„DYING SWANS“ ab 16.4.2021 – Tanzprojekt im Stream – später hoffentlich live!

Eric Gauthier war schon immer ein äußerst kreativer Kopf – so wundert es nicht, dass er die TänzerInnen seiner Compagnie in der anhaltenden Lockdown-Phase nicht im Stich ließ und auf ihre hängenden Köpfe, die ihn an das Symbol des Sterbendes Schwanes erinnerten, mit einer darauf aufbauenden Tat reagierte. Aufgrund seiner weitreichenden Vernetzung fand er 16 z.T. international angesehene ChoreographInnen, die bereit waren für jeden seiner 16 TänzerInnen ein Solo zu kreieren, das sich in irgendeiner Form mit dem Thema des erwähnten berühmten Fokine-Klassikers auseinandersetzt oder dazu Bezug nimmt.

Die Beiträge sollten an verschiedenen Örtlichkeiten, z.T. mangels Reisemöglichkeit der Tanzschöpfer auch via zoom entstehen und wurden jetzt nach einer mehrwöchigen Probenphase unter dem Begriff „Dying swans“ als stream vorgestellt. Über die Entstehung und Einstudierung dieses außergewöhnlichen Projektes wurde bereits in den letzten Monaten von Dana Marta berichtet, so dass es genügt sich hier ganz auf die Endpräsentation der Stücke zu konzentrieren.

Auf Mauro Bigonzetti ist einfach Verlass – der führende Tanzkreator Italiens hat nach seiner jüngst beim Stuttgarter Ballett gezeigten Novität wieder einen Volltreffer gelandet. In seinem ganz schlicht „LA CIGNA“ bezeichneten Solo lässt er die kleine und außerordentlich biegsame und charaktermarkante Garazi Perez Oloriz am Rande eines von innen beleuchteten mit Schaum gefüllten runden Behälters balancieren bis sie hinein fällt, sich reckend, den Kopf mit ihren langen Haaren hängend wieder aufrichtet, am Rande entlang hangelt, sich kämpfend wie ein Schwan verbiegt und zuletzt doch im Schaum untergeht. Diese gut 3 Minuten (ein Zeitraum, der für alle Stücke vorgegeben war) sind so voller Spannung und Magie, wie sie wohl nur eine so außergewöhnliche Tanzkünstlerin zustande bringt.

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Izabella Szylinska in EMOVERE von Itzik Galili.Copyright: Jeanette Bak

Die Gestalt des Schwanes bleibt auch in „EMOVERE“ erkennbar. Der international renommierte Itzik Galili  lässt von  Izabela Szylinska nur die untere Hälfte sichtbar werden, das Solo ist eine faszinierende Unterwasserbelichtung und zeigt nur die sich aus einem langen Tutu heraus schälenden Beine, die Schwimmbewegungen in kontrollierten Ausdruck eines (mit dem Tode) ringenden Wesens überführen.

Auch Kinsun Chan, ein seit langem in der Schweiz lebender Tänzer und Compagnieleiter, macht den Schwan in Menschengestalt sichtbar. In „SILENT SWAN“ zeigt die in einer weiten schwarzen Hose steckende Bruna Andrade in durchgehend fließender Struktur in einem Licht durchfluteten Raum auf einem weißen Stuhl verschiedenste Positionen einer (Schwanen)-Frau bis zum letztendlichen Niedersinken. Akustisch herrscht schönste Harmonie durch ein neues Arrangement der ursprünglichen Saint-Saens-Melodie des Sterbenden Schwans.

Bei dieser Gelegenheit sei darauf hingewiesen, dass die bei allen anderen Stücken hier nicht erwähnte Musikauswahl kein Zeichen der Ignoranz ist, sondern deshalb unterbleibt, weil sie in der Tag im Bezug zu den Choreographien nur wenig auffällt, die Ausdruckskraft zumindest bei den allermeisten Arbeiten so stark und dominierend ist und damit der Tanz in Verbindung mit Licht seine Qualität beweist. Die einstige Stuttgarter Primaballerina und jetzige Karlsruher Ballettdirektorin Bridget Breiner visualisiert ihren Schwan in „FLATTERND“ durch eine Frau in einem schwarzen Fransenkleid, die sich in einer leeren Halle in fein austarierten Bewegungen des Beugens, des Neigens, teils auf Spitze ergeht und dabei virtuos mit klassischen Formen spielt.

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Anneleen Dedroog in AELLE von Andonis Foniadakis. Copyright: Jeanette Bak

Andonis Foniadakis Schwan ist eine fast nackte Frau, die zwischen Nebelschwaden immer wieder sprunghaft im Licht auftaucht, sich das Gesicht bedeckt, um sich schlägt, an den Haaren zerrt usw.- Anneleen Dedroogs intensiver Einsatz hat die Gewalt  des Todeskampfes einer Kreatur. Die Bedeutung des Stücktitels „AELLΩ“ ist leider nicht in Erfahrung zu bringen.

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Shawn Wu in TALEB’S THEORY von Anita Hanke. Copyright: Jeanette Bak

In Schwarzweiß getaucht hat auch die regional stark verankerte Anita Hanke ihr Solo „TALEB’S THEORY“, in dem Shawn Wu in zunächst dunkler, dann von Lichtstäben dominierter Umgebung als eine Art Gefangener heraus beleuchtet wird. Seine Sprünge werden allmählich kleiner und enger bis er gegen Ende mehr und mehr zusammensinkt bzw. -klappt.

Ein Schwan in Menschengestalt begegnet uns auch in „THE SWANNY SIDE OF LIFE“ von Guillaume Hulot, der u.a. auch einige Jahre als Ballettmeister bei Gauthier Dance engagiert war. Hier ist es Jonathan Dos Santos, der sich zuerst in einem Treppenhaus in saloppem schwarzem Anzug die Stufen hinauf hangelt, teilweise fast wirft, übers Geländer biegt und dann wieder abstürzt. Gegen Ende sehen wir ihn in schwarzem Kleid in freier Natur im Sonnenlicht zwischen Bäumen Befreiung suchend und schließlich doch zu Boden sinkend.

Der in Stuttgart bestens bekannte langjährige Ballettdirektor von Maribor Edward Clug bringt in „DROPS“ das Element Wasser ins Spiel. Alessio Marchini vermittelt in weißer Badehose in einem Wasserbecken in einem Einer stehend mit zunehmend weiter flatternden Armen, sich aus der Hocke empor streckend, teilweise das Gesicht umfassend, mit ganz schlichter Symbolik berührend einfach die Ängste und Nöte der derzeitigen Pandemie. Dabei greift er einen Weg suchend  mit den Händen seitlich in seine Hose. Wenn er am Ende wieder mehr Halt gewinnt und die Schwimmbewegungen sich wieder befreiend lockern, bleibt doch ein Funken Hoffnung, dass das Leben irgendwie weitergehen wird.

In Form eines alten Filmstreifens mit Fäden ist Kevin O’Day’s Beitrag „WE WERE MANY“ konzipiert. Auf einer imaginären Bühne sehen wir Luca Pannacci als technisch vervielfachten Conferencier im weißen Hemd und gestreiften Gilet spielerisch leicht Hüte in die Choreographie integrierend, bis er sich zuletzt alle aufsetzt und unter der Last zusammenbricht bzw. verschwindet.

Dominique Dumais (früher Mannheim, jetzt Würzburg), deutet in „FALLEN WINGS“ die Befreiungsversuche eines Mannes in Schwarz an, der sich zwar in der Natur bewegt, aber an einem großen von einer Mauer umgebenen Platz gegen Barrieren ankämpft und sich zuletzt an der Wand zusammenkauert. Shori Yamamoto lässt den Wechsel zwischen Hoffnung und Verzweiflung körperlich wie mimisch ohne Aufgesetztheit zum Tragen kommen.

Auch die in der freien Szene sehr engagierte Nicki Liszta zeigt in „OBLONG BLUR“ ihren „Schwan“ in der Natur eines Bachlaufs, später am Stuttgarter Hafen, strandend zwischen Industriegleisen, sich dann doch mehrfach aufrappelnd. Louiza Avraam in schwarzer Hose und grober roter Strickjacke veranschaulicht dies mit sich zuletzt beinahe überschlagendem Tempo sehr eindringlich und offensiv.

Die aus Argentinien stammende, seit rund 25 Jahren von Berlin aus international tätige Constanza Macras wiederum lässt ihren „Schwan“ als blauen Paradiesvogel im Maurischen Garten der Stuttgarter Wilhelma aktiv werden. Der vielleicht ironisch gemeinte Titel „ALL TOMORROW’S PARTIES“ spielt wohl auf die Hoffnung an, dass es doch ein Morgen geben wird, wo wir befreit aus der Pandemie hervor gehen. Sidney Elizabeth Turtschi artikuliert dies in Sprüngen, die wie von fremder Hand gesteuert wirken und dabei die erstaunlichsten Abwehrkräfte signalisieren.

Virginie Brunelle, Kanadierin mit eigener Compagnie, schickt in „OFF WHITEBarbara Melo Freire in weißem Anzug mit schwarzem Top auf eine nächtlich beleuchtete Fußgängerbrücke – trippelnd, wie getrieben, sich drehend und flach legend mit verschränkten Beinen, dann sich wieder aufrichtend usw. – auch ein Befreiungsversuch, der offen lässt wie er endet.

Der in Deutschland aktive, Ohad Naharins Gaga-Methode unterrichtende Israeli Smadar Goshen benennt sein Solo nach der hinduistischen Kaste „KAMMA“, von der wahrscheinlich die schwarz umrandeten Augen seines Solisten Theophilus Vesely herrühren. Über einem ausgespannten, in leichtem Luftzug auf und nieder schwebenden hellen Schleier vollzieht er in glänzendem Höschen allerlei Bewegungs-Rituale kriechender, dehnender, dann wieder zusammen klappender Natur, die sich gegen Ende in zuckendem Licht rasant steigern. Ein ideales Stück für den für solche geheimnisvollen Parts geeigneten, aus der Cranko Schule hervor gegangenen Tänzer.

Mit Mark Sampson ist in „OLORIS ORAM“ ein ähnlicher Tänzertyp zu sehen, der sich ebenfalls im Höschen vor einem am Boden angebrachten Scheinwerfer-Horizont mit schwebend leichtem, geschmeidigem Körper dreht, mehrmals zusammenklappt, wieder langsam aufrichtet. Das macht das Stück der international engagierten Tänzerin und Tanz-Pädagogin Elisabeth Schilling über die vermittelte Botschaft hinaus zu einem Hingucker.

Bleibt zuletzt noch Eric Gauthier selbst, der in seinem Titel „COVID CAGE“ ganz klar auf die aktuelle Situation anspielt und Andrew Cummings eingeschlossen in seinem Zuhause, einer mit Panorama-Blick auf Stuttgart befindlichen Wohnung oberhalb der Neuen Weinsteige Züge eines verzweifelten (Tieres) annimmt. Alltagsbewegungen wie Drehungen auf einem Bürostuhl, allerlei Windungen am Boden, das Plattdrücken der Hände auf der Fensterscheibe sind dabei geschickt zu einer temporeichen Choreographie zusammen geschweisst – bis die Hoffnung in Gestalt einer Frau auf dem Balkon erscheint, die (das Pflaster am hochgeschlagenen Ärmel verrät es) geimpft wurde und den in Quarantäne Gefangenen in die Arme nimmt. Eine sehr berührende Chiffre, nach der sich viele von uns sehnen dürften.

Zu hoffen ist auch ein später möglicher Transfer zumindest einiger dieser Projekt-Beiträge auf die Theaterhaus-Bühne – live vor Publikum!

  Udo Klebes

 

 

 

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