„Faust“ von Charles Gounod in der Staatsoper Stuttgart
DIE HÖLLE DES TRIEBES
Premiere: Frank Castorf inszeniert „Faust“ von Charles Gounod am 30. Oktober 2016 in der Staatsoper/STUTTGART
Mandy Fredrich (Margarethe), Gezim Myshketa (Valentin). Copyright: Thomas Aurin
Auch in Frankreich interessierte man sich Mitte des 19. Jahrhunderts für die „Faust“-Legende. Gounod komponierte deswegen seine Oper „Faust“, die sich sehr stark auf die Liebesgeschichte zwischen Faust und Gretchen konzentriert. Faust ist hier aber kein Wissenschaftler, der über die menschliche Erkenntnismöglichkeit meditiert, sondern ein einsamer Mann auf der Suche nach Liebe. Frank Castorf zeichnet in seiner gelungenen Inszenierung aber raffiniert die Hölle des Triebes nach. Es dominieren hier filmrealistische Visionen von Paris. So sieht man die Metro-Station „Stalingrad“, ein Straßencafe und die Kirche Notre Dame mit Kerzenleuchtern. Eine sehr überzeugende Idee. Man hat auch das Gefühl, dass Castorf einen wirklichen Bezug zu dieser Musik hat. Vorproduziertes Videomaterial lässt die Figuren in glühender Leuchtkraft lebendig werden. Es wird vor allem die Zeit um 1960 reflektiert – doch auch das 19. Jahrhundert hinterlässt seine Spuren. Faust ist hier kein Intellektueller, sondern ein alter Mann, der sich eine Frau sucht. Man begreift, dass Faust sich vergeblich das Leben zu nehmen versuchte. Er möchte die ungestüme Leidenschaft seiner Jugend zurück.
Adam Palka (Mephisto), Atalla Ayan (Faust). Copyright: Thomas Aurin
Eindringlich gestaltet Castorf im drehbaren Bühnenbild von Aleksandar Denic und den fantasievollen Kostümen von Adriana Braga Peretzki, wie Valentin in einer bunten Gruppe feiernder Soldaten für seine Schwester Margarethe betet. Als Wagner ein heiteres Lied anstimmt, drängt sich Mephistopheles in die Runde. Er beherrscht von nun an bei dieser konzentrierten Inszenierung in ungewöhnlicher Direktheit die Szenerie. Faust gerät bei Castorf ganz bewusst immer tiefer in die unerforschlichen Fallstricke von Mephistopheles und kann sich nicht mehr daraus befreien. Das sieht man dann auch in grellen und grotesken Video-Bildern, wo Mephistopheles Grimassen zieht. Er verabscheut die Liebe zwischen Faust und Margarethe. Faust hat Margarethe verlassen, Wagner ist im Krieg gefallen. Alles spitzt sich in Frank Castorfs Inszenierung im zweiten Teil dramatisch zu. Schließlich wird Margarethes Bruder von Faust erstochen, Margarethe möchte nicht mit Faust gehen, sie verabschiedet sich trotz Beteuerung ihrer Liebe. Dieser Mord an Margarethes Bruder Valentin in einer Telefonzelle (die von der Video-Projektion in unheimlicher Weise vergrößert wird) gerät auch dank des fulminanten Baritons Gezim Myshketa zu einem unvergesslichen visuellen Höhepunkt dieser Inszenierung. Und die Stimmen aus der Höhe erinnern mystisch an die Auferstehung Christi. Die Inszenierung von Castorf besteht ganz eindeutig aus den suggestiven Video-Projektionen, die die psychischen Befindlichkeiten der Protagonisten präzis ausloten und verdeutlichen. Man sieht auch alptraumhafte Sequenzen, Krokodile mit Colaflaschen. Frank Castorf hat etwas gegen das „kitschige Ende“ dieser Oper. Margarethe sinkt zunächst wie entseelt nieder und nimmt dann plötzlich im Hintergrund des Cafes wieder Platz, um sich ein Glas Wasser mit seltsamen „Kugeln“ einzufüllen. Damit endet das Stück überraschend. Man nimmt die sinnierende Margarethe wahr, die durch den Zaubertrank ganz entrückt zu sein scheint. Man ist sich aber auch nicht sicher, ob sie sich nicht doch das Leben nehmen will. Sie geht jedenfalls nicht zurück in die Konformität der Gesellschaft. Die Wohlanständigkeit wird durchkreuzt, die Hölle des Triebes setzt sich konsequent durch.
Adam Palka (Mephisto), Mandy Fredrich (Margarethe). Copyright: Thomas Aurin
Für Castorf geht es in dieser Oper nicht um den Teufel als das Prinzip der Vernichtung. Der Teufel ist vielmehr derjenige, der Faust einen guten Lebensstandard und gleichzeitig ein trostloses Ende ermöglicht. Das Phantastische und Märchenhafte ist für ihn als Regisseur dieses Werkes aber auch wichtig. Der Rausch des Walzers und der Liebe bleibt überall spürbar. Die sinnlichen Reize lassen sich nicht verleugnen. Die Verführung durch Drogen auch nicht. Paris ist für Castorf das Sinnbild für den Kampf um die Demokratie, das zeigt sich in den Massenszenen mit dem Chor. Es geht zudem um die Entpolitisierung des Menschen im Kaiserreich. Interessant ist, dass Castorf Texte von Arthur Rimbaud auf der Bühne rezitieren lässt. Auch hier geht es um die „Demokratie“ und ihre Gefährdung. Trotz mancher szenisch ungelöster „Baustellen“ beeindruckt diese Inszenierung durch ihre eindeutige Aussagekraft: Wer sich zu weit vorwagt, riskiert die Vernichtung. Wo Frank Castorf sich bei Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ in Bayreuth eher schwer tut, gelingt ihm Gounods „Faust“ in Stuttgart umso besser. Denn er hört ganz bewusst auf die Musik.
Das tut auch der feinsinnige Dirigent Marc Soustrot. Musikalisch steht diese Aufführung nämlich auf einem hohen Niveau. Das Staatsorchester Stuttgart musiziert die Partitur wie aus einem Guss und betont leidenschaftlich-schwelgerisch. Insbesondere die melodische Fülle triumphiert in überwältigender Weise bei dieser durchdachten Wiedergabe. Der Tenor Atalla Ayan kann der Kavatine „Gegrüßt sei mir, o heil’ge Stätte“ großen gesanglichen Klangzauber und innere Leuchtkraft entlocken. Margarethes Lied vom König von Thule und die Schmuckarie erfahren durch die schlanke und wandlungsfähige Sopranstimme von Mandy Fredrich berührende Intensität. Gezim Myshketa kann Valentins Gebet mit voluminöser Wucht erfüllen. Der grandiose Mephistopheles von Adam Palka begeistert mit Bass-Schwärze beim Lied vom Goldenen Kalb in Tarantella-Form und der unheimlichen Serenade. Der französische Charakter dieser Musik wird nuancenreich ausgelotet. Echte Empfindung kann Soustrot mit dem Staatsorchester Stuttgart glänzend verdeutlichen – auch der Kirchenmusiker Gounod kommt zu seinem Recht. Eine großartige Crescendo-Steigerung beherrscht zudem die grandiose Schluss-Szene. Das Dämonische und Gespenstische besticht hier aufgrund der wunderbar farbig gestalteten Instrumentation Gounods. Marc Soustrot gelingt dabei die feine Balance zwischen orgiastischer Besessenheit und unnahbarer Askese. Die eindringliche Schwungkraft des „Faustwalzers“ bleibt sehr stark im Gedächtnis. Die Personen sind hier typische Figuren der romantischen Oper, da hält sich Frank Castorf ganz an die Vorlage. Anklänge an Hector Berlioz sind bei dieser Interpretation immer wieder deutlich herauszuhören, dadurch gewinnen die dramatisch-fantastischen Szenen noch mehr an Gewicht. Aber auch Robert Schumann bleibt angesichts der melodischen Entwicklung spürbar. Dem Gespür für Klangfarben lässt Marc Soustrot mit dem Staatsorchester Stuttgart freien Lauf. In hervorragender Weise ist der Staatsopernchor Stuttgart von Johannes Knecht einstudiert worden. In weiteren Rollen fesseln Michael Nagl als Wagner, Josy Santos als Siebel und Iris Vermillion als Marthe (Kamera und Bildgestaltung: Tobias Dusche, Daniel Keller). Die eindrucksvolle Videoregie besorgte Martin Andersson (Dramaturgie: Ann-Christine Mecke). Das Publikum feierte diese Premiere mit großen Ovationen. Die eindrucksvolle Videoregie besorgte Martin Andersson (Dramaturgie: Ann-Christine Mecke). Das Publikum feierte diese Premiere mit großen Ovationen.
Mandy Fredrich (Margarethe), Adam Palka (Mephisto). Copyright: Thomas Aurin
Die letzte Neuinszenierung dieser Oper war in Stuttgart übrigens im Jahr 1952 zu sehen. Bei Castorf beerdigt sich die Gesellschaft am Schluss allerdings selbst. Ein Chor von Totenschädeln besiegelt das Schicksal. Und die Schlange erscheint im Video als große Verführerin. Sie ist auch eine reizvolle Hommage an den französischen Symbolismus.
Alexander Walther