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STUTTGART: FAUST von Charles Gounod als Wiederaufnahme

Rausch der Liebe

22.04.2018 | Oper


Copyright: Thomas Aurin

„Faust“ von Charles Gounod in der Inszenierung von Frank Castorf am 21. April 2018 in der Staatsoper/STUTTGART 

 

RAUSCH DER LIEBE

Es ist eine der bildmächtigsten Inszenierungen von Frank Castorf (Bühnenbild: Aleksandar Denic; Kostüme: Adriana Braga Peretzki). Diese 1859 komponierte Oper des katholischen Kirchenmusikers Charles Gounod konzentriert sich ganz auf die Liebesgeschichte zwischen Faust und Gretchen. Faust ist hier aber kein Wissenschaftler, sondern ein einsamer Mann auf der Suche nach Liebe. Die Zeitspanne zwischen 1860 und 1960 wird voll ausgekostet.

Im Zentrum steht ebenso die Kolonialisierung sowie der grausame Krieg der französischen Politik in Algerien. Von Arthur Rimbaud und Charles Baudelaire werden Gedichte gelesen. Man sieht ein zeitloses Paris als Bühnenbild zwischen dem 19. Jahrhundert und der modernen Welt. Hinter einem Bistro-Cafe thront der gewaltige Dom Notre Dame – ein genialer Einfall. Denn es handelt sich hier um eine drehbare Bühne, die immer wieder ihr Gesicht verändert. Notre Dame wird so plötzlich wieder zu einem Haus. Videokünstler befinden sich auf der Bühne (Videoregie: Martin Andersson). Frank Castorf gelingt es ausgezeichnet, den Rausch des Walzers und der Liebe herauszuarbeiten. Dies betrifft vor allem die Szenen zwischen Faust und Margarethe. Und Mephistopheles ermöglicht einen guten Lebensstandard, er verkörpert nicht das Prinzip der Vernichtung und der dialektischen Negation. Er besorgt auch die Frauen in allen möglichen Variationen. Castorf persifliert bei seiner Inszenierung den raffinierten Zauber der Luxusindustrie, die sich über die Handlung ausbreitet. Die Schrecken des Algerienkrieges korrespondieren gleichzeitig mit der Französischen Revolution – man sieht Soldaten mit abgeschlagenen Köpfen.

Erinnert wird ebenso an die zwiespältige Zeit Charles de Gaulles. Auf einem Plakat sieht man sogar den chilenischen Diktator Augusto Pinochet. Das Märchenhafte und Phantastische neben dem Gewalttätigen und Monströsen ist bei Castorf dennoch immer wieder wichtig, Paris wird zugleich Sinnbild für den Kampf um die Demokratie zwischen Coca-Cola-Werbung und dem Staatsstreich von 1851, wo der Kapitalismus explodierte. Reminiszenzen an den Baron Haussmann, der die Stadt Paris durch Sichtachsen strategisch kontrollierbar machte, erinnern Frank Castorf zugleich an Adolf Hitler und Albert Speer in Berlin. Man sieht auch die Metrostation „Stalingrad“ und die Innenräume der Häuser in Videofilmen und der Realität. Die Apotheose des Triebes steht bei Castorf bis zum Schluss im Mittelpunkt. Das ist die Stärke dieser Inszenierung, die das komplizierte Seelenleben der Protagonisten in eindringlicher Weise greifbar macht. Weitere Höhepunkte der Aufführung sind die Ermordung von Margarethes Bruder Valentin durch Faust sowie die gewaltige Kirchenszene, wo Margarethe Gott um Vergebung bittet, aber nur Antwort von Mephistopheles erhält. Ebenso erschütternd ist die Begegnung Fausts mit Margarethe im Kerker, die das gemeinsame Kind getötet hat. Die Welt der Irrlichter und Hexen macht Castorf plastisch greifbar. Mit filmischen Schnitten und Überblendungen entstehen in diesem raffiniert konzipierten Miniatur-Paris rasante und atemlose Verfolgungsjagden, Zeitsprünge und Träume (Kamera und Bildgestaltung: Tobias Dusche, Daniel Keller; Dramaturgie: Ann-Christine Mecke). Manchmal quillt die Bilderwelt der Bühne gleichsam über, was nicht unproblematisch ist. Musikalisch bereitet diese Aufführung ebenfalls großes Vergnügen.

Das liegt vor allem daran, dass der Dirigent Willem Wentzel das Staatsorchester Stuttgart sehr präzis und detailliert leitet. So gewinnen auch die lyrischen Höhepunkte von Gounods Oper eine ungeahnte Präsenz und Ausdrucksstärke. Dies zeigt sich bei der Juwelenarie im zweiten Akt, wo Mandy Fredrich als klangfarbenreiche Margarethe das kapriziöse Chanson vom König von Thule mit schillernd-arabeskenhaften Koloraturketten exzellent trifft. Sehr verinnerlicht interpretiert sie dann den Gesang vom Spinnrad „Nie kehrt er zurück“ im dritten Akt. Enttäuschungen und Qualen lassen Margarethe schließlich zur Kindesmörderin werden, was Mandy Fredrich als versierte Sopranistin mit großer Glaubwürdigkeit darstellt. Georgy Vasiliev (Faust) interpretiert Fausts Kavatine in Margarethes Garten „Mein Gruß gilt dem geweihten Ort“ im zweiten Akt mit leidenschaftlicher Emphase, Inbrunst und glaubwürdigem Pathos. Und im Duett mit Margarethe „Komm heran, schau mir tief in die Augen!“ steigert sich diese Leidenschaft zur höchsten Intensität. Als dämonischer Mephistopheles brilliert Adam Palka mit rabenschwarzem Bass nicht nur beim sarkastischen „Rondo vom goldenen Kalb“ mit dem Refrain „Satan selbst führt an den Tanz“ im ersten Akt, sondern auch bei der äusserst verführerisch und diabolisch dargebotenen Serenade „Auch wenn du schläfst, mein Schätzchen“ im dritten Akt. Mit empfindungsreicher Deklamation agiert ferner der wandlungsfähige Bariton Gezim Myshketa als Valentin bei der Kavatine als Gebet „Muss ich von der Heimat fort“ im ersten Akt. Und bei der Sterbeszene wächst dieser Sänger auch darstellerisch über sich selbst hinaus.


Copyright: Thomas Aurin

In weiteren Rollen gefallen Michael Nagl als der im Krieg fallende Wagner, Sophie Marilley als Siebel und Frederika Brillembourg als Marthe. Johannes Knecht hat den Staatsopernchor wieder prachtvoll einstudiert. Dies gilt für den Kirmeschor „Wein und Bier her“ im ersten Akt ebenso wie für den köstlich-lebendigen Walzer „Wie vom Wind aus himmlischen Höhen“. Auch der aus Charles Gounods selbst vernichteter Oper „Iwan der Schreckliche“ stammende ehemalige Kosaken- und jetzige Soldatenchor „Preist unsrer Väter erlauchten Rat!“ im dritten Akt besitzt hier große dramatische Schlagkraft. Außerdem arbeitet Willem Wentzel die ungeheuren kontrapunktischen Orgel-Finessen der Kirchenszene sowie das berühmte „Hexeneinmaleins“ in der Walpurgisnacht mit dem Ballett im vierten Akt mit dem Staatsorchester Stuttgart sehr konzentriert heraus. Die melodische Fülle blüht bei dieser gelungenen Wiedergabe immer wieder neu auf, die französische Sprachmelodie triumphiert so in allen möglichen Facetten mit großer Leuchtkraft. Die an der Kirchenmusik meisterhaft geschulte Satzkunst wird vom „Faustwalzer“ in poetisch aufreizender Weise durchkreuzt. Das thematische Gewebe und die vielen klanglichen Querverbindungen erhalten bei dieser hervorragenden Wiedergabe so ein zusätzliches Gewicht.

Jubel, Ovationen.

Alexander Walther

 

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