Stuttgart
„FAUST“ 6.11. 2016 (Premiere 30.10.) – mit dem Teufel des Kapitalismus
Valentin verflucht Margarete: Mandy Fredrich und Gezim Myshketa. Copyright: Thomas Aurin
Unglaubliche 64 Jahre hat es gedauert bis die Stuttgarter Oper sich jetzt wieder auf Gounods Repertoire-Klassiker besonnen hat. Dass dafür einer der umstrittensten Regisseure interessiert werden konnte, ließ im Vorfeld nicht unbedingt so Gutes für den urdeutschen Goethe-Stoff schlechthin erahnen. Doch Frank Castorfs Hang zur Bilderstürmerei kann durchaus auch seine Reize haben, wenn er dabei der Musik in den reflektierenden Momenten der Arien und Duette respektierenden Raum zum Atmen gestattet. Bei der auf die Liebe zwischen Faust und Margarete konzentrierten französischen Opern-Version erscheint es auch im Sinne der leichteren musikalischen Stilistik, wenn der Regisseur die Geschichte aus der deutschen Kleinstadt nach Paris, die Metropole der zur Entstehungszeit der Oper aufkeimenden Lebenslust im Zuge beginnender Luxusindustrie holt.
Beim Zeitalter der Romantik bleibt es jedoch nicht, er schlägt einen hundertjährigen Bogen bis zur Pariser Commune und dem Algerienkrieg, ja selbst die Gegenwart ist nicht ganz ausgeblendet. Umgesetzt wird dies durch die Videoregie von Martin Andersson mit teils vorgefertigten Filmen mit diversen Volks- und Kriegsszenen, die während der Ensemble-Szenen auf Leinwänden zu sehen sind, die mal links, mal rechts von oben herab gefahren werden. Auch die Kostüme von Adriana Braga Peretzki bilden Verweise auf verschiedene Epochen. Diese zusätzlichen Ebenen sind überflüssig, weil sie die Konzentration erschweren, aber auch weil Aleksandar Denic auf die Drehbühne eine so stimmige Pariser Atmosphäre geschaffen hat, deren wechselnde Ansichten von einem Café, einer Telefonzelle (zu der sich der verwundete Valentin noch schleppen kann und der auf anderen Seite der Scheibe kauernden Margarete seine blutige Hand verfluchend entgegen streckt), der reell existierenden Metro-Station Stalingrad, einer Mansarden-Wohnung, gekrönt von einer Relief-Nachbildung von Notre Dame, genügend faszinierendes Augenfutter bieten.
Höhepunkt Kirchenszene: Mandy Fredrich (Margarete) und Adam Palka (Mephisto). Copyright: Thomas Aurin
So sehr all das immer wieder spannendes Theater bietet – die diverse Vorspiele überlagernde, von den Solisten rezitierten Texte von Arthur Rimbaud über die Entpolitisierung des Menschen und den gefährlichen Kreislauf der Demokratie ist als zu weit gehender dramaturgischer Eingriff entschieden abzulehnen. Als ob ausgerechnet der Goethe-Stoff noch einer Ergänzung bedürfte.
Durch die zeitliche Verlagerung und dadurch mit hinein spielenden Begriffe wie Amusement, Luxus und Kapitalismus werden die Charaktere anders als gewohnt, aber wiederum in sich stimmig, beleuchtet. So ist Mephisto nicht der Teufel im klassischen Sinn, sondern ein Agent des bösen Triebes, der Verführbarkeit und einer, der für Geld alles ermöglicht. Auch Frauen besorgt. Für den 33jährigen Polen Adam Palka ist diese Rolle wie ein gefundenes Fressen, so pudelwohl scheint er sich in der mal zynischen, mal süffisanten, mal aalglatten, mal kumpelhaften Haltung dieses Lenkers zu fühlen. Vielleicht auch, weil sie ihm zusammen mit der wandlungsfähigen Mimik so spielerisch leicht über die Lippen geht, als koste es keinerlei Kraft, sich in den vielen vollmundigen Passagen wie dem Rondo vom Goldenen Kalb, der Verfluchung Margaretes oder in der Finalszene mit optimalem Peng und dabei durchgehend druckfreier Höhe zu äußern. Wer vermag diesem warm sonoren Bass mit der flexiblen Klaviatur vom Piano bis zum donnernden Ausbruch, in der großen schlanken Gestalt im lässigen gestreiften Anzug über der freien Brust, der sich später auch in Soldatenkluft hüllt, zu widerstehen? Faust schon gar nicht, geht es dem alt gewordenen Mann doch in erster Linie um Verjüngung und die Gewinnung einer Frau. Nachdem er sich selbst in einen jungen Künstler verwandelt hat (eine im Rahmen dieser so einfallsreichen Regie arg einfache Lösung), begegnet er uns als ein Verwandter von Puccinis Rodolfo. Seine „Bohème“ könnte ja ohne weiteres in dieser Kulisse spielen! Atalla Ayan gibt ihm mit seinem sinnlichen Edel-Timbre aus südländischer Leidenschaft und französischer Sensibilität die Grundlage für ein Portrait zwischen Lebensfreude und Liebesrausch. Die Strahlkraft des oberen Registers inklusive eines voll ausgesungenen Aufstiegs zu „la presence“, ein sauber strömendes Legato sowie die transparente Artikulation reihen dieses (wie bei allen anderen Solisten) Rollendebut als weiteren Glücksfall in die steil aufstrebende Karriere des brasilianischen Tenors. Dieser Faust sucht auch nicht das höhere Liebesideal, sondern ein erotisches Abenteuer. So kann es ihm auch egal sein, wenn Margaretes Lebenswandel nicht so ganz rein ist und sie einer Halbwelt-Beschäftigung nachgeht. Mal im festlichen Glitzerkleid, später auch im kniefreien Kurzkleid und voll bepackt mit Einkaufstüten, zeichnet Mandy Fredrich das bewegende Bild einer Frau zwischen Anstandswahrung und Triebgesteuertheit. Ihr üppiger lyrischer Sopran hat sowohl die Feinheit fürs liedhaft Schlichte, die Resonanzen für die verzweifelten Entäußerungen als auch die Lockerheit für das Koloraturgeschmeide der Juwelen-Arie. Dass sie am Ende nicht stirbt, verwundert hier nicht. Wie in Trance richtet sie sich vom Boden auf und mixt sich im Café ein Gift ins Sektglas, während der Chor frontal (wie vorteilhaft oft in dieser Inszenierung) ins Publikum an die Auferstehung erinnert. Den Bruder Valentin gibt Gezim Myshketa im Gegenwarts-Militäranzug als ehrbegriffenen Patrioten, der entsprechend für das Duell keinen Degen sondern ein Gewehr in Anschlag bringt. Das Gebet intoniert er mit der Feinheit eines Liedersängers, unterstützt von den passend gemäßigten Tempi des Dirigenten, ohne den gut genährten Kern vermissen zu lassen. Bei seiner Wiederkehr aus dem Krieg hat er sich dann auch in der vollen Höhe frei gesungen.
Verführer und Opfer: Adam Palka (Mephisto) und Mandy Fredrich (Margarete). Copyright: Thomas Aurin
Als Soldaten, Halbweltdamen, Angehörige verschiedener Bevölkerungsschichten und einen Teil der verwendeten Walpurgisnachtszene ausfüllenden gruseligen Masken ist der Staatsopernchor zunächst geteilt, doch zum Walzer, zur bestürzenden Begaffung von Valentins Ermordung und dessen Fluch im Sterben bildet er eine zusammen gehörende Masse. Seine Tongebung ist gewohnt rund und einheitlich, dynamisch und dem französischen Idiom angepasst verfeinert (Einstudierung: Johannes Knecht). Diesbezüglich hat auch Marc Soustrot am Pult viel Detailarbeit geleistet, so dass sich das Staatsorchester Stuttgart bei aller entfalteten Klangpracht als erfreulich schlanker, statt eines fetten symphonischen Gewebes viel Eleganz, Esprit und Leichtigkeit hörbar machender Apparat präsentiert. Die insgesamt eher gemäßigten Tempi münden nie in Spannungslosigkeit, sie erlauben Gounods musikalische Sprache in ihrer gesamten Anlage auszukosten.
Als Gesamtpaket ein in vielen Belangen unleugbar faszinierendes Ergebnis, besonders getragen von der szenischen Atmosphäre und einer durchweg hochwertigen musikalischen Umsetzung. Viel Begeisterung auch nach dieser ausverkauften Sonntag-Nachmittagsvorstellung.
Udo Klebes