STUTTGART/ Schauspielhaus: Premiere von Martin Walsers „Ehen in Philippsburg“ am 11. März 2017
DIE GESELLSCHAFT WIRD SEZIERT
Matti Kraus, Paul Grill. Copyright: JU
Der Regisseur Stephan Kimmig nimmt in seiner Theaterfassung zusammen mit Jan Hein Martin Walsers Idee auf, der in seinem Roman „Ehen in Philippsburg“ die Hautevolee einer Stadt in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft als korrupt und verkommen aufdeckt. Philippsburg ist eigentlich Stuttgart. Es ist eine ernste und mahnende Auseinandersetzung mit Erscheinungen unserer zeitgenössischen Gesellschaft, wo lebendige Institutionen vom Leerlauf bedroht sind. Der uneheliche Sohn einer Hausgehilfin, Dr. Alexander Alwin (den Paul Grill virtuos darstellt), dringt durch reiche Heirat in diese Gesellschaft mit ihrer doppelten Ehe- und Geschäftsmoral ein: „Ich bin Rechtsanwalt, und ich will meine Herkunft nicht vergessen. Ich komme aus kleinen Verhältnissen, meine Mutter war Kartenabreißerin im Staatstheater Stuttgart und mein Vater war Buchhalter. Meine Frau ist eine geborene von Salow, Ilse“. Auf einer Drehbühne entwickelt Stephan Kimmig hier ein amüsant-sarkastisches Spiel, in dem sich die Schauspieler richtig austoben können. Und am Ende begeht auch noch ein Dichter Selbstmord. Matti Krause spielt höchst emotional den Aufsteiger Hans Beumann, den es nach Philippsburg zieht, dem Zentrum des deutschen Wirtschaftswunders in den 50er Jahren. Anwälte, Rundfunkintendanten, Chefredakteure und Industrielle beherrschen hier die Szene. Rücksichtsloser Egoismus und Ellbogendenken herrschen vor: „Haben Sie denn wenigstens gewonnen, Herr Beumann?“
Im Bühnenbild von Katja Haß sieht man ein Rondell mit großen Eisenstäben, das sich immer wieder wie um sich selbst dreht. Dort feiert die feine Gesellschaft ihre verrückten Partys. Dabei wird der Zustand dieser Gesellschaft immer kritischer, was Kimmig dank konzentrierter Personenführung drastisch verdeutlicht. In revuehaften Szenen kommt nie Langeweile auf. Die Ehen der Schönen und Erfolgreichen werden nur mit größter Mühe zusammengehalten – eine Scheidung würde sogar einem Skandal gleichkommen. Martin Walser beschreibt schonungslos die Neurosen der Wirtschaftswunderjahre, die Protagonisten bewegen sich immer wieder wie gehetzt auf einem Fahrband weiter, gerade so, als ob sie um ihr Leben laufen würden.
Matti Krause, Sandra Gerling. Copyright: JU
Dieses Philippsburg mit seinen Hängen und seinen Straßen unten im Kessel ist eigentlich immer nur Stuttgart. Die absurden gesellschaftlichen Mechanismen werden auch in Stephan Kimmigs atemloser und spannungsvoller Inszenierung bloßgestellt. Die verschiedenen Perspektiven dieses ungewöhnlichen Romans werden dabei grell beleuchtet. Man lernt Hans Beumann als das Alter Ego von Martin Walser kennen. Anne Volkmann und Marga gewinnen in der subtilen Darstellung von Sandra Gerling sofort Profil, Ilse Alwin wird von Manja Kuhl recht mondän verkörpert. Felix Klare stellt die innere Zerrissenheit des Frauenarztes Dr. Alf Benrath plastisch dar, der zwischen seiner Frau Birga (facettenreich: Verena Wilhelm) und seiner Geliebten Cecile (intensiv: Svenja Liesau) in heftiger Weise hin- und herschwankt. Horst Kotterba schließlich macht die Verzweiflung des scheiternden Schriftstellers Berthold Klaff packend deutlich. „Gib mir Keuschheit und Enthaltsamkeit, nur gib sie nicht schon jetzt!“ meint Hans Beumann zuletzt. „Die Welt soll sich auch ohne mich weiterdrehen. Wenn bloß die Zukunft ausfallen würde, so wie ein Schultag ausfallen kann…“ Horst Kotterba mimt zudem „ordinär“ den schwulen Chefredakteur Harry Büsgen, dem von seinen Galanen schamlos in der Hose herumgefingert wird – die Presse wird gnadenlos bloßgestellt, mit der Hans Beumann auch als überforderter Journalist seine liebe Not hat. Am überzeugendsten inszeniert Kimmig das Seelendrama Dr. Benraths, dessen Verhältnis zu seiner Geliebten Cecile ausweglos erscheint. Plötzlich findet er seine Frau tot in der Wohnung, die sich vergiftet hat. Und er beauftragt dann den Rechtsanwalt Dr. Alwin, die „Formalitäten“ zu übernehmen. Beumann studiert die Manuskripte des durch Selbstmord aus dem Leben geschiedenen Dichters Klaff, kann ihnen letztendlich aber keinen Sinn abgewinnen. Die Sinnlosigkeit des Wirtschaftswunderlebens karikiert Stephan Kimmig zuweilen mit beissender Schärfe (Kostüme: Anja Rabes; Musik: Michael Verhovec; Choreografie: Sally Cowdin). Zuletzt taucht das Bild der Mutter ganz groß in Beumanns Erinnerungen auf. Sie hat sein Leben entscheidend geprägt. Walsers knappe und fast schon parodistische Sprache wird von den Schauspielern hier immer wieder dankbar aufgegriffen. Präzis beobachtet auch Stephan Kimmig die einzelnen Figuren, die wie hilflose Marionetten im gesellschaftlichen Spinnennetz zappeln.
Dass Walser sich zu einem Realismus mit sozialistischer Tendenz bekennt, spürt man bei dieser Inszenierung deutlich, die nur gelegentlich leichte Schwächen in der Personenführung aufweist. Martin Walser möchte die Gesellschaft verändern, er will bei der Gestaltung praktischer Demokratie direkt mitwirken. Vielleicht hätte man diesen Aspekt sogar noch stärker herausarbeiten können. Bei Walser beginnen die eigentlichen Eheprobleme, wenn es den Partnern gut geht. Das ist auch bei der Novelle „Ein fliehendes Pferd“ so. Das Falsche im Kulturbetrieb wird moralisch scharf verurteilt. Die Dekadenz beherrscht Rundfunk, Fernsehen, Presse, Theater. Lüge und Halbwahrheit werden von Walser verurteilt. Walser zeigt sich in diesem Roman als gnadenloser Moralist. Karl Kraus lässt grüßen – aber natürlich anders. Er plädiert für einen jetzt fälligen Realismus, der beweisen muss, dass alles Bisherige Idealismus war. Darauf geht Stephan Kimmig in seiner zuweilen auch witzigen Inszenierung ein. Satire verwandelt sich dabei auch in scharfen Humor, der keine Grenzen kennt. Wenn Walser das „faulige Ehebett“ kritisiert, spielt das verklemmte Sexuelle ebenfalls eine Rolle. Dies zeigt sich ebenso bei Anne Volkmann, Arthur Volkmann und Bertha Volkmann, die von Sandra Gerling, Michael Stiller und Manja Kuhl wie mit Masken gespielt werden. Sie verbergen alle ihr wahres Gesicht und ihre Gefühle. Das gleiche gilt für Claude, Frau Färber, Alice DuMont und Loni, die von Sebastian Röhrle, Abak Safaei-Rad sowie Kim Tassia Kreipe und Monique Smith-McDowell wie Schießbudenfiguren über die Bühne gejagt werden. Zur Besinnung kommt hier eigentlich niemand, Probleme werden bewusst überspielt und verdeckt. Puppenhaft wirken selbst die Dienstmädchen in der Darstellung von Sandra Guenin und Daura Hernandez-Garcia. Böse Risse bekommt dieses falsche Leben dann bei der brutal geschilderten Abtreibung Annes, die Sandra Gerling in hervorragender Weise zu einer berührenden Tragödie macht. Beumann ist nach der Abtreibung „bei Anne wochenlang auf winzige Knöchelchen gestoßen, so klein, dass man sie kaum sah, aber so spitz und hart, dass sie sich beide wundgekratzt hatten daran.“ Diese „anstößige“ Passage sollte Walser auf Wunsch Peter Suhrkamps eigentlich streichen, aber er wehrte sich dagegen. Stephan Kimmig gelingt hier eine bewegende Szene, bei der Sandra Gerling und Matti Krause als Darsteller ganz zusammenfinden. Starker Schlussapplaus für eine sehenswerte Aufführung.
Alexander Walther