Matthias Klink. Foto: Matthias Baus
Stuttgart: „DIE WINTERREISE“ 5.3. 2020 (Pr. 1.3.2020) – visuell überfrachtet
Der im letzten Herbst verstorbene Hans Zender hatte 1993 Franz Schuberts berühmten Liederzyklus nach Gedichten von Wilhelm Müller einer Neuvertonung unterzogen, indem er den Klavierpart auf ein kleines Orchester von 25 Musikern verteilt und dadurch eine erhebliche farbliche Differenzierung zum Spürbarmachen der expressiven Gewalt erzielt hat. Die so entstandene Verfremdung und Verräumlichung wurde nun von dem niederländischen Installationskünstler Arnout Mik dahingehend bildlich erweitert, dass er die gegenwärtige Situation des zunehmend von der virtuellen Welt eingenommenen und fremdbestimmten Individuums als Winterreise unserer Tage verstanden wissen möchte.
Die bis in den Zuschauerraum vorgerückte Bühne (links das Orchester, rechts ein Stufenpodest mit einer Bank als Hauptaktionsraum für den „Wanderer“, dahinter drei unterschiedlich große Bildschirme) soll dieses Experiment räumlich erfahrbar machen, die Distanz zwischen dem Solisten und dem Publikum aufbrechen. Die Verlorenheit des Einzelnen wird sowohl durch die Ausdrucksebene des Interpreten als auch durch seine Körperlichkeit und die optische Präsenz der in ihm entstehenden Bilder vermittelt werden. So flackern die ganzen 90 Minuten über kurze Momentaufnahmen gesellschaftlicher und körperlicher Zustände wie Erinnerungsfetzen auf oder zwei Live-Kameras rücken dem Protagonisten regelrecht auf die Pelle, indem sie Körperteile wie den Bauchnabel oder die Nasenflügel ganz nah heran zoomen. Als visuelles Mittel der Fragmentierung und Entfremdung des eigenen Körpers bezeichnet dies Mik in einem Gespräch. Spätestens da wird dieses Konzept zum übergestülpten Experiment, die nervöse Bilderflut zur dominierenden, die musikalisch-textliche Ebene überflutenden Komponente.
Wenden wir uns lieber den beiden Akteuren zu, die diesen Abend dennoch zu einem Ereignis werden lassen. Hand in Hand mit der kleinen Formation des Staatsorchesters Stuttgart ist hier das feine Gespür Zenders für die klangliche Aufsplitterung von Schuberts Original zu rühmen. Mit minimaler Streicherbesetzung, dagegen doppelt besetzten Bläsern und Zusatzinstrumenten wie einem Akkordeon, einer Gitarre und Windmaschinen hat er eine geräuschhafte und harmonisch verschobene, dabei aber stimmungsvoll an Schubert anknüpfende Klangwelt geschaffen, die vor allem in der Behandlung der Bläser und der entstehenden Mischeffekte immer wieder an Gustav Mahlers Kosmos erinnert. Einzelne Solisten/innen nehmen dazwischen auch mal Positionen am seitlichen Parkett ein und wandern so mit durch den Raum. Schab- und Schlagfetzen evozieren die winterlich/eisige Umwelt. Alles in allem überbrückt Zenders „komponierte Interpretation“ die Kluft zwischen dem reinen Kunstgenuss und der realen Verzweiflung des Wanderers. Stefan Schreiber lenkt die Musiker mit präziser Hand und ebenfalls einer gewissen körperlichen Hingabe durch die verschiedenen Stationen dieser sehr speziellen Winterreise.
Die Hauptlast dieses Unternehmens liegt indes bei Matthias Klink, der sich mit seinem außergewöhnlichen gesamtkünstlerischen Charakter unter den klassischen Interpreten wie nicht anders vermutet als idealer Protagonist für diesen Grenzgang zwischen Konzert und Theater behauptet. Nach der im Januar im gewöhnlichen Rahmen eines Liederabends vorgestellten „Schönen Müllerin“ vertieft sich der sich jeder fachlichen Zuordnung entziehende Tenor mit subtilster körperlicher Sensibilität in die mal schmerzvoll anklagenden, mal vehement die Situation zu überspielen versuchenden Gesänge. Da wird jede kleine Regung, jeder Blick, ja jeder Schritt im Aktionsraum zwischen Podest und Orchester zu einem Blick in sein Inneres, viel mehr als es all die oft scheinbar beliebig zusammengestellten Bilderfetzen zu tun vermögen. Gerade bei einem so starken, alle Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Künstler erweist sich diese virtuelle Erweiterung als absolut unnötiges ablenkendes Unterfangen – aller beabsichtigten Motive Miks zum Trotz. Wie gut, dass Klink seinen Körper auch in den Phasen teilweiser Entkleidung mit fast tänzerischer Elastizität und schauspielerisch intuitivem Gespür einzusetzen und in den Dienst eines dringlich intensiven Ausdrucks zu stellen vermag. Die Nuancierung seines flexibelst verfügbaren Tenors reicht von ganz zarter, fast schwebender Tongebung durch eine Skala fesselnder Schattierungen bis zu bisweilen grell verzerrten Ausbrüchen. Der liebesenttäuschte Poet bei Schubert wird auch in dieser gegenwärtigen Weltschmerz-Demonstration immer wieder hörbar, auch wenn Klink eher einen anderen Typus verkörpert.
Wer im Laufe der Vorstellung immer wieder die Augen geschlossen und sich ganz auf die akustische Umsetzung konzentriert hatte, konnte diese Winterreise am eindringlichsten erleben und als Kunstwerk auch genießen. Anhaltender Jubel.
Udo Klebes