Wagners „Der fliegende Holländer“ als Wiederaufnahme in der Staatsoper Stuttgart
SCHAUERLICHE MOMENTE
Wagners „Der fliegende Holländer“ als Wiederaufnahme am 8. Januar 2017 in der Staatsoper/STUTTGART
Copyright: Sebastian Hoppe
Calixto Bieito hat Richard Wagners Oper „Der fliegende Holländer“ ganz deutlich in unsere Zeit verlegt. Der Holländer ist hier ein potentieller Amokläufer, die Seemänner fahren auf einem roten Schlauchboot heran. Es sind Geschäftsmänner in Nadelstreifenanzügen, deren Anzüge sich im Laufe der Inszenierung jedoch immer wieder stark verändern. Die Finanzkrise wird thematisiert, diese Inszenierung stammt aus dem Jahr 2008. Auch im zweiten Akt, in Donalds Haus mit den Mädchen an den Spinnrädern, wird die heutige Leistungsgesellschaft teilweise messerscharf aufs Korn genommen. Man sieht im weiträumigen Bühnenbild von Susanne Gschwender und Rebecca Ringst überall Kühlschränke auf der Bühne – umrahmt von Frauen, die konsumieren und gut aussehen.
Calixto Bieito hat dabei den Film „Die Frauen von Stepford“ mit Nicole Kidman und Glenn Close im Blick gehabt. Senta möchte unbedingt aus der seelenlosen Gesellschaft aussteigen, sucht den Sinn des Lebens anhand des Porträts des „Fliegenden Holländers“. Zwischen beiden kommt es bei der ersten Begegnung zu einem schweigenden Einverständnis, was Bieito trotz mancher szenischer Schwachpunkte durchaus glaubwürdig inszeniert. Gelegentlich vermisst man allerdings psychologisches Fingerspitzengefühl. Beide lieben einander mehr als dass sie einander brauchen, das wird hier deutlich. Visuell entsteht kein naturalistisches Bühnenbild, sondern ein abstrakter Assoziationsraum, was zuweilen reizvoll ist. Dieser Glas- und Stellraum wird von Wasser und Sand dominiert, die Bürowelten beherrschen die Menschen mit dämonischer Kraft. So gibt es auch einen Dämon, der von Manni Laudenbach mit hoffmanneskem Gelächter verkörpert wird. Er entsteigt einem kleinen Hexenhäuschen, aus dem riesige Füße ragen. Donald lässt sich auf diesem Häuschen als peitschenknallender Despot hereintragen, es erinnert an die legendäre Hütte der Baba Yaga. Calixto Bieito schafft dabei durchaus Reminiszenzen zu Wilhelm Hauffs „Gespensterschiff“, gegen Ende entstehen unheimliche Momente – etwa dann, wenn in gespenstisch flackerndem Licht plötzlich die Flügeltüren aufgehen und der Geisterchor im dröhnenden Off seine Gesänge intoniert. Das sind ganz starke Augenblicke. Auch zu Beginn gelingen Bieito beklemmende Bilder – etwa dann, wenn Senta als Silhouette hinter der großen Glaswand von einem Unbekannten bedrängt, geschlagen und niedergestochen wird. Da beschreibt der Regisseur seelische Alpträume, die den Betrachter nicht mehr loslassen. Bieito und sein Dramaturg Xavier Zuber haben vor allem den zweiten Akt im Blick, wo Sentas große Sehnsucht nach Erlösung im Widerstreit mit Wagners Strategie steht, die Sängerin zur Trägerin einer Idee zu machen.
Christiane Libor kann als Senta mit tragfähigem Timbre ihr Strophenlied glaubwürdig interpretieren. Man merkt, wie sensibel sie sich in die Gemüter der Mädchen vorarbeitet. Der melodische Reiz geht hier nicht verloren. Als befreiende Erlösungsmotive gestaltet Christiane Libor eindringlich die Schlussgruppen der Ballade. Die Intervalle zwischen E und Fis werden ausdrucksvoll betont. James Rutherford gelingt es als Holländer bei seinem Stuttgart-Debüt, die Abgründe der Partie mit klangfarbenreichem Bariton zu beschwören. Aufwärtseilende chromatische Läufe arbeitet der Dirigent Georg Fritzsch mit dem Staatsorchester Stuttgart facettenreich heraus. Das Stehenbleiben auf der schneidenden Dissonanz wird grell unterstrichen. Die aufgetürmte Woge wird akustisch zu einem dynamisch reizvollen Wellenkamm. Attila Jun kann sich als Donald dabei mit vokaler Kraft behaupten. Die Motive der Matrosenrufe, des Holländerschicksals, der See und das zart-lyrische Moment der Erlösung kommen bei Christiane Libors bemerkenswert kraftvoller gesanglicher Gestaltung nicht zu kurz. Wie stark gerade der Holländer alle Konventionen verletzt, macht Calixto Bieito bei seiner Inszenierung drastisch deutlich. Zuletzt fühlt man sich an den Film „Das Schweigen der Lämmer“ erinnert, wenn der Holländer im Schlauchboot auf der hinteren Bühnenestrade hochgezogen wird und wie ein Gekreuzigter hängen bleibt. Die Funktion von Kunst erfährt hier einen erstaunlichen Wandlungsprozess, dessen Intensität sich stets verstärkt. Donalds Erstaunen beim Anblick des Holländer-Schiffs bringt Attila Jun mit großer Intensität über die Rampe. Das Matrosenmotiv erfährt eine bemerkenswerte Wandlung. Die Arpeggien der Klarinetten und Flöten beim „Südwind“-Ruf prägen sich bei dieser Interpretation durch das konzentriert agierende Staatsorchester unter der einfühlsamen Leitung von Georg Fritzsch ebenso präzis ein wie die psychologisch interessante Auseinandersetzung zwischen Mary (ausgezeichnet: Idunnu Münch) und Senta im zweiten Aufzug. Mary mishandelt die gefesselte Senta, die sich jedoch letztendlich befreien kann und dann ihrerseits Mary mit einem Strick gefangen nimmt. Als Erzrivale des Holländers tritt Georg in dieser recht packenden Inszenierung in Erscheinung, der von Thomas Blondelle zunächst sanftmelodisch und dann mit leidenschaftlicher Emphase interpretiert wird. Der Sostenuto-Traum, den Georg vorträgt, um Senta in Vorausahnung der Ankunft des Holländers zu warnen, wird vom Dirigenten Georg Fritzsch mit dem Staatsorchester Stuttgart sehr packend und impulsiv musiziert. Die Verzweiflung des verschmähten Liebhabers vermag Thomas Blondelle hervorragend darzustellen. Attila Jun übernimmt im dritten Akt dann glaubwürdig die Vermittlerrolle, danach nimmt die Musik mit dem Holländer- und Erlösungs-Motiv ihren feierlichen Charakter wieder auf.
Der Stuttgarter Staatsopernchor. Copyright: Sebastian Hoppe
Die musikalischen Übergänge gelingen bei dieser Aufführung grundsätzlich besser als die szenischen. James Rutherford hat bei der Sostenuto-Passage „Wie aus der Ferne längstvergangner Zeiten spricht dieses Mädchens Bild zu mir“ bewegende Augenblicke, weil er glaubwürdig machen kann, wie überwältigt er von dem Vorgefühl endlichen Heils ist. Diese Sehnsucht nach Erlösung ist übrigens auch im Orchester und im von Christoph Heil wieder einmal exzellent einstudierten Staatsopernchor zu hören. Das Duett zwischen Senta und dem Holländer gerät dann zu einem bemerkenswerten Höhepunkt dieser Aufführung. Wie Pulsschläge werden die Erinnerungen des Holländers von den Hörnern begleitet, da zeigt Georg Fritzsch mit dem Staatsorchester sehr viel Sinn für Details. Oboe und Violoncello umspielen Sentas Gesang schwelgerisch. Und bei der Kadenz kommt es zu einer großartigen stimmlichen Steigerung. Beim Erlösungsmotiv spürt man fast ein magisches Innehalten und Verweilen in der Ewigkeit. Die zu Triolen beschleunigten Pulsschläge der Hörner treiben bei dieser Wiedergabe letztendlich das gesamte Orchester voran, und im dritten Aufzug triumphiert der stürmische Rhythmus des Seemannslebens, eindrucksvoll hebt sich der Geisterchor vom Matrosenchor ab, da faszinieren die zahlreichen harmonischen Facetten. Thomas Blondelle kann Senta bei der von der klagenden Oboe begleiteten Cavatine nochmals mit seiner Verzweiflung und Treue beeindrucken, aber nicht mehr wirklich überzeugen. Diesen Zwiespalt vermag Calixto Bieito als Regisseur sehr grell zu beschreiben. Das dröhnende Unmutsmotiv behauptet sich bei der Entdeckung des Geheimnisses des Holländers mit eherner Kraft und Macht:“…den fliegenden Holländer nennt man mich!“ Und das triumphierende Erlösungsmotiv erklingt beim gespenstischen Hochziehen des Schlauchbootes mit dem Holländer. Als Steuermann vermag ferner Torsten Hofmann zu überzeugen.
Es ist eine interessante Inszenierung, die die unheimliche Welt E.T.A. Hoffmanns in der heutigen Zeit beschwört (Kostüme: Anna Eiermann; szenische Leitung der Wiederaufnahme: Nina Dudek; choreographische Mitarbeit: Lydia Steier).
Alexander Walther