Das Stuttgarter Ballett
„SHADES OF WHITE“ 21.10.2018 nm – Ein Fest der Harmonie
Tamas Detrich hat seine erste Saison als Nachfolger von Reid Anderson mit einem dreiteiligen Ballettabend begonnen, bei dem die von einigen neuen Gesichtern im Corps de ballet abgesehen unverändert besetzte Compagnie nach der Rückkehr aus der Sommerpause in technischer Hinsicht sofort aufs Höchste gefordert ist, so als wollte er beweisen, dass das Stuttgarter Ballett trotz seiner Gerühmtheit für Persönlichkeiten und Ausdrucksstärke als klassisches Ensemble die Klassik in ihrer Reinform beherrschen muss. Und wie sie es kann, das zeigte das Programm unter dem klingenden Titel „Schattierungen in Weiß“ an diesem Sonntag-Nachmittag auch mit Alternativ-Besetzungen in vielen Solo-Parts.
Das Königreich der Schatten – Hyo-Jung Kang + David Moore. Copyright: Stuttgarter Ballett
Die Damen und Herren Solisten mögen es verzeihen, wenn die Gruppe zuvorderst gewürdigt wird. Ganz besonders die 24 Bajaderen im berühmten „KÖNIGREICH DER SCHATTEN“ zeigten bei ihrem langsamen Reigen zu Ludwig Minkus idyllischer Musik, in dem sie eine nach der anderen mit genau den gleichen Schritten und Arabesques penchées in Serpentinen aus der Vision einer von einem mächtigen Baum gesäumten diffusen Berglandschaft eine Rampe herab schreiten, eine Geschlossenheit und Sicherheit im Austarieren ihrer Balancen, die alle Erwartungen übertroffen hat. Die renommierte Primaballerina Natalia Makarova hat auf Einladung von Detrich mit der Assistenz von Olga Evreinoff ihre 1974 erstmals gezeigte komplette Rekonstruktion des weißen Aktes aus Marius Petipas „La Bayadere“ mit sichtbarem Feinschliff einstudiert und dem Haus damit die erste Begegnung mit diesem Werk beschert – mal abgesehen vom letztjährigen Gastspiel des Tokyo Ballett. Ein Stück Ballettgeschichte und eine Novität zugleich! Das Damen-Corps, durchsetzt mit einigen Halbsolistinnen machte diesem vielleicht himmlischsten Unisono-Spitzentanz des Ballett-Repertoires alle Ehre und schonte sich in keinem Moment, obwohl sie am Abend dieses Tages noch eine zweite Vorstellung zu bewältigen hatten. Aber auch einige Solisten waren stark gefordert, weil bei den beiden Besetzungs-Kombinationen in mehreren, wechselnden Parts eingesetzt. Nikija und Solor, die nur im Traum eines Jenseits zusammen kommen können, wurden an diesem Nachmittag erstmals von Hyo-Jung Kang und David Moore getanzt. Die Debut-Anspannung stand ihnen etwas ins Gesicht geschrieben, so dass es der Präsentation bei aller technischen Tadellosigkeit und Musikalität noch etwas an Selbstverständlichkeit und Ausstrahlung mangelte. Mit Fernanda De Souza Lopes, Ami Morita und Agnes Su folgten ihnen Bajaderen-Solo-Variationen in kaum nachstehender sicherer Attitude und virtuoser Beinarbeit.
Konzert für Flöte und Harfe – Miriam Kacerova + Marti Fernandez Paixa mit Herrencorps.
Dass weiß nicht gleich weiß ist, fasst der Titel so gut zusammen, wie es dann im Vergleich mit den beiden anderen Programmteilen zu erleben ist. In John Crankos „KONZERT FÜR FLÖTE UND HARFE“ zur gleichnamigen Komposition von Mozart sind statt Luftwesen reelle Menschen, statt des für weiße Akte üblichen Frauenensembles Männer am Werk, solistisch ergänzt von zwei Tänzerinnen in kontrastierendem Schwarz. Wo bei Petipa ganz klare Formationen und komplette Übereinstimmung herrschen, hat Cranko die klassische Grundordnung durch eine spielerische Dramaturgie erweitert und den Körpern selbst in dieser konzertanten Form die Aufgabe einer abstrakten Form des Erzählens mit feingliedriger Fußarbeit und kleinen Sprüngen zugeteilt. Wenn auch die beiden Damen, die wie immer bestechend genaue und ausgeglichene Elisa Badenes und die fraulich lyrisch phrasierende Miriam Kacerova, für die beiden Soloinstrumente Flöte und Harfe stehen, und die 12 Herren somit das füllende Instrumentarium übernehmen, sind letztere mehr als nur umrankendes Beiwerk. Alle sind gleichwertig gefordert, drei von ihnen sind die Kadenzen der drei Sätze mit einer Partnerin zugeordnet. An diesem Nachmittag repräsentierten erstmals der technisch und tempo-dynamisch überragende Adhonay Soares Da Silva und der gestaltungsbewußtere, wie immer charmante Marti Fernandez Paixa die beiden solistisch mehr herausgestellten Parts, während der etwas verspielte Moacir de Oliveira, der große blonde, wieder nach Stuttgart zurück gekehrte Clemens Fröhlich und der immer mehr ins Rampenlicht rückende Daniele Silingardi in den Kadenz-Pas de deux für die einheitliche Stärke und Disziplin der weiteren Kollegen stehen.
Sinfonie in C: Elisa Badenes + Friedemann Vogel. Copyright: Stuttgarter Ballett
Zählen bei Cranko eher die kleinen Details, so ist bei Balanchine alles auf die große Linie der Arme und Beine ausgerichtet, auf den großen amerikanisch geprägten Stil mit den glänzenden Tutus und Krönchen, vor blau leuchtendem Hintergrund unter Kronleuchtern. Waren die Kostüme der Erstfassung noch bunt wie die verschiedener Edelsteine, so standen sich bei der Endfassung die Damen in Weiß und die Herren in Schwarz gegenüber. Stolze 70 Jahre hat die „SINFONIE IN C“ mittlerweile auf dem Buckel, ohne auch nur ein bisschen alt, geschweige denn verstaubt zu wirken. Obwohl streng symmetrisch von der Mittelachse ausgerichtet und in den Aufgaben der einzelnen 35 Tänzer ebenso streng hierarchisch gegliedert, atmet dieses erste weiße konzertante Ballett der Tanzgeschichte, unterstützt durch die spritzig leichte Musik von Georges Bizet Symphonie Nr.1 in C-Dur, eine so lockere Laune, die sich bei dem hier gezeigten technischen Können auf die Gesichter der TänzerInnen zaubert. Jeder Satz wird von einem Solisten-Paar angeführt, jeweils ergänzt durch zwei Halbsolisten-Paare und eine sechs- oder achtköpfige Gruppe. Den Kopfsatz erfüllen zum ersten Mal die langbeinig feine Ami Morita und der hier weitaus entspannter wirkende, in allem gewissenhaft noble David Moore. Vom ersten zum zweiten Satz gewechselt ist der so ideal in sich ruhende und superb partnernde Friedemann Vogel und bildet zusammen mit Elisa Badenes das derzeit einheitlichste Paar der Compagnie mit Format. Den langsamen Satz mit seinem weit tragenden Hauptthema erfüllen sie mit maximaler Spannung – Tanz, der ganz in der Musik aufgeht.
Nicht weniger strahlend servieren Angelina Zuccarini (Debut) und Jason Reilly den scherzohaft fröhlichen dritten Satz, gefolgt von der liebreizend brillanten Jessica Fyfe mit dem weich springenden, charismatischen Matteo Miccini (Debut).
Keine auffallenden Schwächen bei den Nachgeordneten, auch hier wie in den anderen Stücken eine Harmonie, die dieses Programm zum perfekten Ausgleich für die Aufregungen und den Stress des Alltags werden lässt.
Nach dem coda-artig gesteigerten Finalsatz, wo die einzelnen Gruppen und Duos noch einmal nacheinander erscheinen, war der Funke endgültig übergesprungen und eine Begeisterung entfacht, die bei den beiden anderen Stücken etwas verhalten ausgefallen war.
Alles in allem hätte die neue Ballett-Aera in Stuttgart nicht glänzender starten können, das Stuttgarter Ballett bereitete nicht nur dem Publikum, vor allem auch seinem neuen Direktor mit spürbar neu erwachter Tanzlust und ausgeglichen hohem Niveau ein Fest zu seinem Einstand. Selbst das sonst bei Ballettaufführungen sehr unterschiedlich animiert wirkende Staatsorchester Stuttgart verlieh unter der Leitung seines langjährigen Musikdirektors James Tuggle den leicht zur Routine verkommenden Kompositionen von Mozart, Minkus und Bizet mehr Frische und Lebendigkeit. Weiter so!
Udo Klebes