Stuttgart: „CHOWANSCHTSCHINA“ 26.5. 2016– Von Kultiviertheit bis Kraftmeierei
Eine der beiden Bass-Säulen: Askar Abdrazakov als Fürst Chowanskj mit Staatsopernchor. Copyright: A.T.Schaefer
Das im Herbst 2014 als Koproduktion mit dem Anhaltischen Theater Dessau erstmals in Stuttgart gezeigte, von Mussorgsky nur als Klavierauszug hinterlassene und von Rimssky-Korsakov bzw. später Schostakowitsch instrumentierte epische Volksdrama kam nun mit zwei Umbesetzungen zu einer weiteren Aufführungsserie. Eine davon betrifft die zentrale Figur der Marfa, die als unglücklich verliebte Altgläubige und Wahrsagerin eine vielfältig schillernde Funktion im bewegten Geschehen zwischen den verfeindeten Volksgruppen einnimmt. Die russische Mezzosopranistin Marina Prudenskaya mit dem perfekten Registerausgleich erfüllt die melodisch dankbare Rolle mit einer bewundernswerten Verschmelzung von kultivierter Gesangsweise und natürlicher Expressivität. Sie greift auch szenisch nie zu pathetischer Effektivität, lässt vielmehr alles aus der Ruhe heraus unaffektiert entstehen und packt im Ganzen dennoch in ihrer ungeschminkten Intensität. Dasselbe gelingt im kleineren Format bezogen auf die Episodenrolle des sich von Sohn Chowansky bedrängt fühlenden Vorstadtmädchens Emma auch Michaela Schneider.
Beim männlichen Geschlecht faszinierte an vorderster Stelle Matthias Klink im farbenreichen und wandlungsfähigen Einsatz seines gehaltvollen lyrischen Tenors für die zweischneidige Charakterisierung des dem Zarenhaus nahe stehenden Fürsten Golizyn, der sich hier seiner Verbannung durch schnelle Gifteinnahme entzieht. An seiner Seite der Vertraute Warssonofjew in der knappen, eindringlichen und stimmlich aufmerksam machenden Gestaltung des Opernstudio-Absolventen Eric Ander.
Die Bass-Konfrontation von Askar Abdrazakov als Strelitzen-Oberhaupt Fürst Chowansky und Mikhail Kazakov als prophetischem Altgläubigen-Führer Dosifej imponierte auch jetzt wieder in der raumgreifenden Macht ihrer vokalen Fülle und gesättigtem Ausdruck. Während ersterer mit seinem etwas geschmeidigeren Timbre durchaus im Rahmen eines ausgeglichenen Einsatzes bleibt, neigte zweiterer nach einem noch sehr differenziert angegangenen ersten Teil zusehends zu einem donnernden, in den aufgerissenen Höhen unschöne Verformungen bewirkenden und etwas penetrante Züge aufweisenden kraftmeierischen Überdruck. Die Gesamtwirkung konnte dies allerdings, auch hinsichtlich seiner bestechenden Bühnenbeherrschung, kaum schmälern.
Ashley David Prewett gesellte seiner imposanten Statur als Bojar Schaklowitiy, der durch den Mord an Chowansky für veränderte Verhältnisse sorgt, einen eindringlichen Bass-Bariton mit bemerkenswerten Legato-Qualitäten in seinem arienähnlichen Monolog bei. Daniel Kluges kräftiger Charaktertenor passte gut zur windigen Rolle des Schreibers, kontrastiert durch Thomas Elwins lyrisch klaren Tenor als Strelitze Kuska. Catriona Smith war auch jetzt wieder eine mit dramatischen Sopran-Tönen gefestigte, eifernde Altgläubigen-Mutter Susanna. Nur Mati Turi erwies sich erneut als wenig glaubwürdige Besetzung für den in seiner erfolglosen Liebesbemühung um Emma zur Flasche greifenden Chowansky-Sohn Andrej – zu deutlich älter als sein Bühnenvater und mit alles andere als jugendlich klingender Tenor-Strenge.
Staatsopern- Extra- und Kinderchor meisterten ihre umfangreichen Aufgaben als Protagonist des Werkes mit dem gewohnten vokal-darstellerischen Zugriff, wobei nicht ganz verschwiegen werden darf, dass die Soprane hin und wieder etwas unruhig wirkten (Einstudierung: Johannes Knecht). Unter der Leitung des ersten Kapellmeisters Simon Hewett brachte das Staatsorchester Stuttgart sowohl die Schroffheiten der rezitativischen Phasen wie auch das seelisch verankerte Melos der zarten Begleitung von Marfas Gesängen zur Geltung. Selbst in den bombastischen, vom Blech und Schlagwerk dominierten Volksszenen bestand nie die Gefahr einer überbordenden Lautstärke.
Die Inszenierung der ehemaligen Hausregisseurin Andrea Moses bildet eine überwiegend nachvollziehbare Geschichtsschau aus unserer Gegenwart heraus, lässt in der Ausstattung und den Kostümen von Christian Wiehle moderne Medien auf traditionelle russische Elemente stoßen und verzichtet im Gegensatz zu einiger ihrer sonstigen Arbeiten auf ein Zuviel an ablenkenden Details. Wohlwollende, aber nicht in allem würdige Begeisterung zeigende Publikums-Reaktionen standen am Ende dieser zehnten Vorstellung.
Udo Klebes