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STUTTGART: CHOWANSCHTSCHINA – mit dem Chor als Star. Premiere

23.11.2014 | Oper

Stuttgart

„CHOWANSCHTSCHINA“ 23.11. 2014 (Premiere) – mit dem Chor als Star

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 Bass-Machthaber mit Schmelz und Fülle – Asdar Abdrazakov als Iwan Chowanskij. Foto: A.T.Schaefer

Acht Tage nach der Wiener Staatsoper präsentierte auch die Stuttgarter Oper eine Neuinszenierung von Mussorgskys uninstrumentiert hinterlassenem musikalischem Volksdrama. Bei dieser sehr späten Stuttgarter Erstaufführung handelt es sich um eine Übernahme von den koproduzierenden Bühnen in Dessau und Weimar. Jedenfalls eine überfällige Tat, nicht nur aufgrund des ewig aktuellen Themas einer unter Macht und Unterdrückung hin- und her gerissenen Bevölkerung, sondern ganz besonders auch hinsichtlich der im Zentrum stehenden Chorpartien und ihrer den außerordentlichen Fähigkeiten des Stuttgarter Staatsopernchores geschuldeten Herausforderungen.

Die vielsagenden Worte des Altgläubigen-Führers Dosifej „alles weitere in einer Herrschaft wird das Volk schon weisen“ markieren die Mittelpunktstellung der Bevölkerung als maßgebliches Organ. Entsprechend umfangreich sind die Aufgaben des Chores, sie erfassen die Position der Volksmenge wie die Aufsplitterung in Parteien und ihre Untergebenen. Der typisch russisch-orthodoxe Klangcharakter in den tiefen Männerstimmen mag im westlichen Europa nicht zu erzielen sein. Aber auch ohne diese urwüchsige Erscheinung erzielte der Staatsopernchor, ergänzt  durch Herren des Extrachores und den Kinderchor eine parallel zu seinem gewohnt hohen schauspielerischen Einsatz um so mehr zu bewundernde Gesamtleistung, die an reiner stimmlicher Macht und Pracht, an präziser Strukturwahrung, ausgewogener Linie und differenzierter Auffächerung nichts zu wünschen übrig ließ und den Ruhm dieser Sängervereinigung erneut bekräftigte und rechtfertigte. Johannes Knecht hat da enorme Einstudierungsarbeit geleistet. Ob als Masse oder aufgeteilt in Gruppen, ob dahin vegetierend, aufbegehrend, betrunken oder weihevoll schreitend, ob in ärmlicher Alltagskleidung, Uniformen oder traditionellen Gewändern – purer vokaler Luxus.

Die Mischung der Zeitstile, sonst oft ein unentschiedenes Durcheinander, bringt in Andrea Moses Inszenierung die Verwebung von historischen Vorgängen und der von heutigen Erfahrungen aus betrachteten chaotischen Zustände Russlands in der Vergangenheit auf den Punkt. Zumal der Komponist ohnehin keine chronologisch unmittelbar aufeinander folgenden Ereignisse vertont, dafür ein Panorama aus insgesamt 20 Jahre auseinander liegenden Begebenheiten zusammen montiert hat – und das so kunstvoll, dass der Eindruck einer sich innerhalb weniger Tage zutragenden Handlung entsteht. Bühne und Kostüme von Christian Wiehle schaffen mit Drehbühne und kurzen Vorhangschleiern ausreichend Platz für Massenszenen wie auch intimere Begegnungen, und setzen mit symbolstarken Elementen klare aussagestarke Metaphern. Der rote Platz in Moskau ist durch eine rote Kreisfläche angedeutet, die Silhouette des Kremls wird in wechselndes Licht getaucht und teilweise von Werbe-Bildern überblendet. Die auf einem Bildschirm über der Bühnenmitte ablaufenden Video-Bilder überspannen dann phasenweise den Bogen möglicher parallel erfassbarer Vorgänge, da wollte die ideenreiche Regisseurin mal wieder zu viel auf einmal. Einzelbegegnungen wie das Streitgespräch der Gruppen-Anführer entwirft sie hingegen mit der gleichen Spannung wie die beständige Beteiligung des Chores am Geschehen.  Befreit aus der lange gewalteten Leibeigenschaft sehnt sich das Volk nach einem Staatsführer, der sie in ihrer Unselbständigkeit in eine hoffnungsvolle Zukunft führt. Da sind zum einen die derzeitigen Machthaber, die von den Chowanskijs geführten Strelitzen (Armschützen). Das Oberhaupt Iwan gibt sich weiterhin siegessicher und geht schließlich in seinem auf Rollen herein geschobenen Schlafgemach doch in die Mörderfalle. Asdar Abdrazakov verleiht ihm mit belcantesk geschmeidigem, rund und voluminösem Bass die Wechselwirkung von Machtdemonstration und schmeichelhaftem Kavalier. Dass er jünger aussieht als sein Sohn Andrej, liegt weniger an ihm als dem für den hitzköpfigen Frauenverführer zu alt und auch mit seinem an diesem Abend matt wirkenden Heldentenor zu schwergewichtig dräuenden Mati Turi. Dann gibt es den westlich orientierten, verdienstvollen, dem Zarenhaus nahe stehenden Diplomat Fürst Golizyn, dessen Arbeitszimmer auf einer Bärenattrappe gefährlich thront und schwankt, und der sich hier auf dem Weg in die Verbannung selbst tötet. Matthias Klink muss für diese starke Charakterrolle mit seinem klaren lyrisch geprägten Tenor bis an die Grenzen gehen, fasziniert dabei aber mit der von ihm gewohnt flexiblen Handhabung von schillernden Ausdrucks-Valeurs.

Unter ihm rangieren die adeligen Bojaren, repräsentiert durch Schaklowityi, der für die Revolution des Reiches steht und Iwan Chowanskij eigenhändig ins Jenseits befördert. Ashley David Prewett gibt ihm dezent provozierende Züge und lässt mit schon recht durchgereifter Proklamation und in seiner Arie edel auf Linie geführtem Bariton keinen Moment erahnen, dass er letzte Saison noch im Opernstudio war.

Schließlich und nicht zuletzt ist da noch Dosifej, der die Raskolniki als Anhänger einer traditionellen Glaubensreligion vertritt und am Ende mit seinen Genossen in den erwählten Freitod der Verbrennung geht. Das ist ganz großartig inszeniert, mit dem von beiden Seiten das Parkett betretenden und die Bühne beschreitenden Chor, wo die mit Scheinwerfern bestückte Skulptur in Form des Emblemes der Altgläubigen erglüht und eine Rauchwolke ausbreitet. Ein stiller, bewegender Tod mit der positiven Kehrseite, dass nur aus dem Erlöschen auch wieder Neues entstehen kann. Mikhail Kazakovs Bass von erzener Stählung, üppigstem Potential und dennoch gleichwertiger Tragfähigkeit für leise Töne beherrscht alles in dieser Aufführung. Seiner unerschütterlichen Mitteilungs-Intensität, die den Rahmen des lediglich mittelgroßen Stuttgarter Opernhauses beinahe sprengt, vermag sich niemand zu entziehen. Was aus dieser Sängerkehle dringt, das sitzt.

Zwischen all diesen Machtbeanspruchern unterschiedlichster Provenienz hat die als Zauberin geltende Marfa keinen einfachen Stand, sie vermag indes genau deshalb in ihrer schillernden Prägung aus übernatürlichem Weib und liebender Frau besonders nachdrückliche Akzente zu schaffen. Christianne Stotijn gelingt es dank ihres wandelbaren Mezzos mit angenehm dunkler Klangfarbe zwischen lyrischem Seelenton und kernig zugespitzter Dramatik abseits einer mit russischen Stimmen oft verbundenen eindimensional breit georgelten Vokalität in ihrem Zwiespalt zu überzeugen. In ihrem Hader mit der unerfüllten Liebe zu Andrej, der nur noch an seine neue Flamme, die deutsche Emma (Rebecca von Lipinski mit lebhaft eingesetztem Sopran), denkt und den sie mit in den Gruppen-Selbstmord lenkt, gerät sie mit der Glaubensgenossin Susanna aneinander. Catriona Smiths intensiv eingesetzter Sopran gibt deren Eifer hinreichend Nachdruck.

Daniel Kluge stattet den beflissenen Schreiber mit mal grellem, mal zartem Tenor und behender Geschäftigkeit aus, Thomas Elwin lässt als Strelitze Kuzka mit feinem Tenormaterial und sicherer Musikalität aufhorchen.

Das würdige große Format der Aufführung erhielt sie nicht zuletzt durch den Ersten Kapellmeister Simon Hewett, der die Fassung von Schostakowitsch mit dem leise versickernden Finale von Strawinsky trotz seiner divergierenden Formen vom schlichten Volksliedton bis zum schroffen Aufeinanderprall von Mystik und Realität packend zusammenhielt, sie einerseits wie eine riesenhafte Symphonie, aber immer auf den Zusammenhalt des Ganzen achtend, gestaltet. Damit hat sich der junge australische Dirigent hinreichend als richtige Wahl für diese Position erwiesen. Zusammen mit den beiden Bässen und dem Chor erntete er die meisten Ovationen, aber auch das Regieteam durfte einiger Buh-Rufe zum Trotz an diesem Erfolg teilhaben.                                             

Udo Klebes

 

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